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# taz.de -- Kreuzberger Kiezklub im Porträt: „Ein Abbild der Gesellschaft“
> Bei Türkiyemspor Berlin sind mittlerweile die Frauen der Stolz des
> Vereins. In der zweiten DFB-Pokalrunde treffen sie auf den RB Leipzig.
Bild: Erstmals beim DFB-Pokal dabei: Die Spielerinnen von Türkiyemspor
Von Außenseiterchancen möchte Giovanna Krüger gar nicht reden. „Unser Team
ist total selbstbewusst. Für die ist das nur ein Spiel.“ Türkiyemspor
Berlin gegen RB Leipzig, das klingt nach Klassen- und Kulturkampf. Kiezklub
gegen Konzernklub, ein Regionalligist gegen einen Zweitligisten, der nach
ganz oben drängt. Gegensätzlicher könnten die Voraussetzungen am Sonntag um
14 Uhr im Kreuzberger Willy-Kressmann-Stadion kaum sein.
Doch die Fußballerinnen leben anders als die Fußballer noch in friedlicher
Koexistenz, im wohlgesonnenen Wettbewerb der Systeme. Krüger und Murat
Dogan, welche die 2004 gegründete Frauenabteilung bei Türkiyemspor
aufgebaut haben, schauen entspannt auf das DFB-Pokalspiel. Dogan sagt:
„Frauenfußball ist benachteiligt. Jeden Verein, der sich da engagiert,
finden wir erst einmal gut.“
Das Besondere der Partie ergibt sich aus anderem. Erstmals überhaupt
konnten sich die Frauen von Türkiyemspor für den DFB-Pokal qualifizieren.
Nach dem klaren 6:1-Erfolg in der ersten Runde gegen den Eimsbütteler TV
aus Hamburg zählt man nun zu den besten 32 Teams in Deutschland. In die
erweiterte Spitze möchte der Verein ohnehin durch einen Aufstieg in die
Zweite Liga, [1][den man vergangene Saison knapp verpasst hat], vordringen.
Was Türkiyemspor Berlin besonders macht, ist aber nicht der sportliche
Ehrgeiz, sondern die Fähigkeit, Mädchen und Frauen in der
gesellschaftlichen Breite zu erreichen. Während das Aufgebot des deutschen
Nationalteams bei der Europameisterschaft im Sommer kaum Diversität
aufwies, ist das bei Türkiyemspor in all seinen Frauenteams anders. In der
Regionalliga spielen etwa neben Gesine, Karla und Chantal eben auch Selin,
Senanur und Zehra. „[2][Wir sind ein Abbild der Gesellschaft], die hier in
Kreuzberg und Berlin lebt. Wir sind nicht ein Sammelsurium von
Gleichgesinnten. Das ist unsere große Kraft, unsere große Ressource“, sagt
Krüger.
## Traditionelle Vorbehalte
Wobei auch Türkiyemspor nicht alle gleichermaßen erreicht. Türkeistämmige
der zweiten und dritten Generation in Kreuzberg hätten vermehrt Anschluss
an höhere Bildungswege gefunden, sagt Dogan. Das spiegele sich im Verein
wider. „Die sich aus den jüngeren Jahrgängen bei uns anmelden, haben
unterschiedliche Herkunft, sind aber meist aus der gleichen
Bildungsklasse.“
Wie fern sich noch viele von der gesellschaftlichen Realität bewegen,
erlebt der Verein auf seinen Auswärtsfahrten. Viele fremdeln mit den
Spielerinnen, die fast alle deutsche Pässe haben. Wegen der Ausländerinnen,
heißt es dann schon mal, sei Türkiyemspor so gut.
Die Stärke der Kreuzberger Kiezkickerinnen speist sich aus einer sorgsamen
jahrelangen breiten Aufbauarbeit in dem einst reinen Männerverein.
Widerstände habe es natürlich auch gegeben, aber nicht mehr wie in jedem
anderen Verein, wenn Besitzstände plötzlich geteilt werden sollen,
berichtet Krüger. Mittlerweile gibt es fast genauso viele Mädchen/Frauen
wie Jungen/Männer bei Türkiyemspor unter den knapp 700 Aktiven. „Wir sind
nicht nur ein Anhang, sondern gestalten den Verein federführend mit“, so
habe es einmal eine Spielerin auf den Punkt gebracht, erzählt Giovanna
Krüger. Die Männer hätten Türkiyemspor zur Marke gemacht, [3][die Frauen
würden sie weiter bereichern.]
Für die sportliche Strahlkraft des Vereins sorgen derzeit vor allem die
Fußballerinnen. Die Männer haben sich dagegen in den letzten Jahren mit
immer tiefklassigeren Ligen vertraut gemacht. Nach dem Abstieg aus der
Berlin Liga in die siebtklassige Landesliga wurde ein klarer Schnitt
gemacht. Nur drei Spieler aus der Vorsaison sind noch dabei. Von großen
Visionen nimmt man mittlerweile Abstand: „Wir wollen raus aus den
Geschichten der 80er Jahre, mit dem Traum von der 2. Liga!“, sagt Dogan.
## Erfindung der „Fußball-Deutschen“
Türkiyemspor wurde 1978 von türkischen Arbeitsmigranten gegründet und ist
damit nicht der erste Klub seiner Art – das war Türkspor schon 13 Jahre
früher –, aber er ist bei Weitem der bekannteste. Im Mai 1988 erreichte die
Mannschaft als erster migrantischer Verein die 1. DFB-Pokal-Hauptrunde. Als
„Orientexpress des Berliner Fußballs“ wurde das Erfolgsteam auch damals mit
einem unverkennbaren Fremdeln bundesweit bestaunt. [4][Mit
ausländerfeindlichen Schmähungen und Übergriffen] hat der Verein ohnehin
bis heute zu tun. In einem kilometerlangen Autokorso hupten und sangen sich
damals 6.000 Fans vom Katzbachstadion, wie es damals noch hieß, zum
Vereinsheim am Kottbusser Tor.
Von geradezu sporthistorischer Bedeutung ist unterdessen eine Entscheidung
des DFB im selben Jahr. Dem angestrebten und auch realistischen Aufstieg in
die 2. Bundesliga stand die Ausländerbegrenzung im Weg, der zufolge fast
das komplette Team im Profibereich nicht spielberechtigt gewesen wäre. Der
DFB reagierte: Fortan durften Spieler auflaufen, die fünf Jahre, davon drei
als Juniorenspieler, für einen deutschen Verein gespielt haben. Die „Lex
Türkiyemspor“ war geschaffen, der „Fußball-Deutsche“ geboren. Im Jahre …
verpasste Türkiyemspor den Sprung ins Profigeschäft dann auch denkbar knapp
wegen einer 0:5-Niederlage bei Tennis Borussia Berlin am letzten Spieltag.
Nebenbei war die DFB-Regelung ein wichtiger Vorläufer des berühmten
Bosman-Urteils von 1995 und was noch bedeutsamer ist: eine Wegbereitung zur
doppelten Staatsbürgerschaft in Deutschland.
Türkiyemspor war seinerzeit eine – auch vom Nationalstolz befeuerte – Macht
im Berliner Fußball, zeitweise sogar auf Augenhöhe mit Hertha BSC, die
Nachwuchsteams zählten zu den besten im ganzen Lande. Doch der Höhenflug,
der Griff nach den Sternen endete krachend – mit der Insolvenz vor genau
zehn Jahren. „Der tägliche Erfolg war für jeden Präsidenten wichtiger als
langfristige Planung. Nur so wollten sie sich vor der Öffentlichkeit
zeigen“, beschreibt Vereins- und Trainerlegende Bülent Gündogdu die
damalige Situation. Hinzu kam, dass ein unbedarfter neuer Vorstand den
Überblick über die Finanzen verlor.
Und davon erholte sich der Klub nur langsam. Zunehmend besann man sich
wieder auf die Werte und Ziele, die ungeschrieben, aber praktiziert dem
Verein bereits frühzeitig zu eigen waren. Schon vor über 30 Jahren war der
Kreuzberger Klub keine geschlossene türkische Gesellschaft mehr, kickten
Spanier oder Briten mit. Ungeachtet dessen kam es zu berühmten wie
berüchtigten Diskriminierungsattacken bei Spielen im Umland. Schon in den
Nullerjahren engagierte man sich in sozialen Projekten. Und da wollen Dogan
und seine Mitstreiter*innen wieder verstärkt ansetzen.
## Vorreiter bei gesellschaftlichen Themen
„Wir machen so wichtige gesellschaftliche Arbeit, verbinden
unterschiedlichste Menschen miteinander, schaffen Verständnis. Das sind
Dinge, die nebenbei laufen, die uns aber enorm wichtig sind“, sagt Dogan.
Türkiyemspor habe sich beispielsweise schon früh mit Homophobie im Fußball
befasst und sich mit dem Lesben- und Schwulenverband vernetzt, bevor dann
auch größere Vereine die Bedeutung des Themas erkannt hätten.
All das gehört zum Markenkern von Türkiyemspor, der durch ein möglichst
erfolgreiches Frauenteam noch größere Verbreitung finden soll. Giovanna
Krüger sagt, man wolle aber nicht alles in das erste Team pumpen und den
Kontakt zur Basis verlieren. „Die komplette Breite und daraus eine
gewinnende Professionalisierung, das ist eigentlich unser Ziel.“
Beim DFB dagegen favorisiert man eher die selektive Elitenförderung. Zwar
redet der Verband auch gern von der nötigen Breite, doch klassische
Frauenfußballvereine wie Turbine Potsdam oder die SGS Essen oder andere
Klubs ohne Profianschluss haben darunter zu leiden, dass wie in England auf
die Männerlizenzvereine gesetzt wird. Mit Minifilialen wird der
Frauenfußball immer mehr an den Tropf des Männerfußballs gehängt.
Im Jugendbereich werden die besten Mädchen in Jungenmannschaften geschickt,
damit sie besser werden. Murat Dogan hält das für wenig nachhaltig. In den
Mädchenteams würde ein Vakuum entstehen, wenn die Besten rausgenommen
werden, weil die Spielerinnen auch voneinander lernen würden. Die Basis
würde dadurch geschmälert. Es bestehen teils erstaunliche Kluften. Das kann
man auch am Beispiel der fünften Frauenfußballliga in Berlin sehen. Dort
musste der Tabellenachte, der 1. FC Schöneberg, in die nächsthöhere Liga
aufsteigen, weil alle Teams davor sich wegen des dadurch notwendigen
erhöhten Trainingsaufwandes weigerten.
Das sind vermutlich eher nicht die Probleme, die auf der Agenda stehen,
wenn sich Bundeskanzler Olaf Scholz, [5][wie er nach dem EM-Finale
medienwirksam angeboten hatte], mit Bundestrainerin Martina
Voss-Tecklenburg zu einem Gespräch treffen wird, um den Frauenfußball in
Deutschland voranzubringen.
Vorzugsweise wird groß gedacht wie etwa bei Viktoria Berlin, wo man nach
dem Vorbild des US-Klubs Angel City FC, der 2020 von einer Gruppe von
prominenten Frauen gegründet wurde, handelt. Das Frauenteam des
Regionalligisten soll unter der Führung von sechs Gesellschafterinnen,
darunter die zweifache Weltmeisterin Ariane Hingst, in die Erste Bundesliga
gebracht werden.
Bei Türkiyemspor betrachtet man auch diese marktschreierischen Aktivitäten
im Frauenfußball mit Wohlwollen. „Wir profitieren letztlich auch von der
Aufmerksamkeit“, sagt Murat Dogan. „Aber wir werben für einen anderen Weg.…
Viele Vereine in Berlin würden ihre Mädchenabteilung nach dem Vorbild von
Türkiyemspor aufbauen.
11 Sep 2022
## LINKS
[1] /Tuerkiyemspor-gewinnt-Berliner-Pokalfinale/!5856625
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[4] /Rassismus-im-Fussball/!5176180
[5] /Bilanz-der-Frauenfussball-EM/!5867896
## AUTOREN
Johannes Kopp
Rolf-Günther Schulze
## TAGS
Türkiyemspor
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Türkiyemspor
Mesut Özil
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