Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kulturtechnik auf dem Rückzug: Nicht mehr witzig
> Wir schreiben das Jahr 2038. Wegen Lehrermangel verstehen Kinder keine
> Ironie mehr. Damit stirbt sie aus.
Bild: Haha – gelacht wird in der Zukunft weniger
Wir schreiben das Jahr 2038. Die Ironie ist weiter auf dem Rückzug. Ging
die Lehrmeinung im vorigen Jahrhundert noch davon aus, dass Kinder ab etwa
zehn Jahren Ironie verstehen können, stieg das Einstiegsalter um 2020 herum
bereits auf Mitte dreißig, und ist jetzt bei Mitte fünfzig angelangt: Die
Ironie stirbt aus, und mit ihr auch der Humor als herzensbildende
Kulturtechnik.
„Ich versteh die Kiddies ja“, sagt meine jung gebliebene Hausnymphe
Apocalypso. „Wozu etwas brechen, das schon stimmt, und hinterher womöglich
falsch wieder zusammensetzen?“ Erst denke ich, dass sie Recht hat, aber
dann: Ist das nicht eigentlich Zweck der Übung?
Doch obwohl der Humor tot ist, wird trotzdem mehr gelacht als früher. Man
lacht nun eben über alles und vor allem nichts. Am lustigsten findet man
Dinge, die schlicht sind, wie sie sind. Deshalb gibt es statt Comedy heute
Realedy, das verstehen die Leute. Am Einlass zum Realedy-Theater werden
Taschentücher, Herzmedikamente und Tilidin verteilt, denn „es könnte
richtig wehtun“ – so lautet zumindest das Versprechen der Verantwortlichen.
Erst werden die Nachrichten verlesen, danach der Wetterbericht: „Ein
Azorenhoch sorgt für Zufuhr frischer Meeresluft …“, alles eins zu eins. Das
Publikum lacht sich scheckig. Doch es kommt noch besser: Der Realedian,
ein alter weißer Mann, schiebt „Dieter“ auf die Bühne, ein bleiches
Skelett, mit Truckermütze und in Chucks, das für den sehr alten, sehr
weißen Mann steht. In Bauchrednertechnik lässt der Künstler Dieter sagen:
„Salzstreuer:innen, höhö, „Sinti & Roma“-Soße, haha, Woko Haram, huhu,…
ändere meinen Geschlechtseintrag und geh in die Frauenumkleidekabine,
hihihi …“
## Triggerpunkt getroffen
Eine Mitmachnummer, denn nach jedem Satz des Gerippes ruft das wunderbar
diverse Publikum im Chor: „[1][Ok, Boomer!]“ High five, High ten, High
twenty. Lachanfälle, Ohnmacht, Sanitäter. Was für ein angenehmer Grusel.
Der Realedian spielt hier übrigens auf Bewährung. In einem Interview hatte
er nämlich ausgeplaudert, er habe nur -0,8 Dioptrien, und trüge seine
Brille aus rein modischen Gründen. Die wirklich Kurzsichtigen hat das
natürlich extrem getriggert. Er musste sich vor der Myopisten-Community
entschuldigen und tausendmal den Satz schreiben: „Disability appropriation
ist Kackscheiße!“ Mit Kreide. Auf einer Tafel. In Schönschrift.
Und dabei hat er sogar Glück, dass sich die Wogen zurzeit langsam wieder
glätten: 2033 hätten sie ihm dafür noch je ein Hakenkreuz auf beide
Arschbacken gebrannt, und das wär’s dann für ihn gewesen mit der Realedy,
ein für alle Mal.
29 Aug 2022
## LINKS
[1] /Podcast-Die-Querulant_/innen/!5736750
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Kolumne Zukunft
Humor
Kolumne Zukunft
Kolumne Zukunft
fossile Energien
Kolumne Zukunft
Kolumne Zukunft
Autoren:innenverband PEN
## ARTIKEL ZUM THEMA
Aussicht auf friedliche Zeiten: Nie mehr Krieg
Endlich! Im Jahr 2042 wird der Krieg höchstoffiziell abgeschafft. Wurde
auch Zeit, schließlich brachte so ein Krieg bislang nur Nachteile mit sich.
Maßnahmen zur Geschlechtergerechtigkeit: Das Ende „meiner Zeit“
Im Jahr 2040 werden immer mehr Männer aus der Macht und der Verantwortung
gedrängt. Es ist wirklich nicht alles schlechter als früher.
Ende der nicht erneuerbaren Energien: Die Party ist vorbei
Wir schreiben das Jahr 2039. Und es stellt sich heraus, dass nicht
erneuerbare Energien in der Tat nicht erneuerbar sind. Wer hätte das
gedacht?
Philosophie als Zukunfts-Branche: Philosophen regieren die Welt
Wir schreiben das Jahr 2037. Die Philosophie hat sich gegen alle anderen
Wissenschaften durchgesetzt. Endlich können die Gedanken freie Saltos
drehen.
Macht in der Zukunft: Das Matriarchat
Wir schreiben das Jahr 2036. Vor drei Jahren wurde die Herrschaft der
Frauen eingeführt. Was für eine Last für die Männer!
Zukunft des PEN: Literatur morgen
Auf das Ende von PEN folgt die Gründung des ZEN-Zentrums. Dort versammelt
sich das Who’s who geistiger Bodensatzbereiter einer neuen Rechten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.