| # taz.de -- Die Wahrheit: Der unbewegliche Mann | |
| > Ein Unglück kommt bekanntlich selten allein. Aber selten hat ein Unglück | |
| > derart dramatische Folgen – bis in den Himmel hinein. | |
| Mir ist ein Unglück widerfahren. Seit einigen Wochen bin ich ein unbewegter | |
| Mann. Ich darf mich nur ganz unwesentlich bewegen. | |
| Alles begann damit, dass fünf Motorradfahrer ihre Geschwindigkeit | |
| verringerten, der sechste aber nicht. Dummerweise war ich Nummer fünf. | |
| Nummer sechs fuhr auf und beschleunigte mich wie die menschliche | |
| Kanonenkugel im Zirkus. Ein ostwestfälischer Evil Knievel. Der legendäre | |
| Stuntman jumpte mit seinem Motorrad in Las Vegas über Dutzende Autos. Ich | |
| sprang mit meiner 750er Kawa zumindest über einen Graben in Sachsen-Anhalt. | |
| Knievel landete meist elegant mit seiner Maschine, ich leider ohne sie und | |
| etwas daneben. | |
| Mein Hintermann war ebenfalls gestürzt und auf dem Rücken über die Fahrbahn | |
| gerutscht. Wir fühlten uns wie Kosmonauten nach der Landung in der Steppe | |
| von Kasachstan. Geschüttelt, aber nicht gerührt. | |
| Vermutlich bin ich mit einem Salto abgestiegen und hart gelandet. Die erste | |
| Dame, die mir half, trug Berufsbekleidung mit Aufschrift: „Intensivpflege“. | |
| Wir lachten, alle sechs, denn meine Motorradkollegen und ich nennen uns | |
| „Kraftradgruppe Frohsinn“. | |
| Zur Beobachtung kam ich ins Krankenhaus Stendal. Ich hatte jede Menge | |
| Glück, auch wenn bei mir ein paar gebrochene Brustwirbel festgestellt | |
| wurden. Aber es wächst wieder zusammen, was zusammengehört. Trotzdem stand | |
| unsere „Kraftradgruppe Frohsinn“ ein paar Tage lang kurz vor einem | |
| Namenswechsel. | |
| In der nächsten, aufgrund der Schmerzen fast schlaflosen Nacht wurde mir | |
| klar, dass ich wahrscheinlich mein Leben und Überleben meinem Vater | |
| verdankte. Der uralte Herr lag schwerkrank im Pflegeheim. Kurz bevor ich am | |
| Baum vorbei durch die Luft geflogen war, muss er oben Bescheid gesagt | |
| haben: „Moment! Zuerst ich. Der muss noch bleiben.“ | |
| Die zuständige Himmelskraft wird sicher nach einem Grund gefragt haben, und | |
| „unser Hermann“ hat garantiert geantwortet: „Er muss für diese Woche noch | |
| meinen Lottoschein abgeben. Ich bin im Pflegeheim, ich kann das nicht. Und | |
| meine Frau Ilse macht das nicht!“ Ich habe mich dann später so aus dem | |
| Krankenhaus entlassen lassen, dass ich den Lottoschein abgeben konnte, der | |
| blieb leider ohne Gewinn. | |
| Ich weiß noch nicht, ob ich wieder Motorrad fahren werde. Denn inzwischen | |
| ist mein Vater gestorben. Was mich selbstverständlich tief bewegt hat. | |
| Nicht nur, weil ich als Nächster dran sein könnte, sondern auch weil ich | |
| meinen wahrscheinlich besten Fürsprecher verloren habe. | |
| Vielleicht kann ich aber doch gefahrlos weiterfahren, da Hermann nun noch | |
| näher dran ist an den zuständigen Kräften im Himmel. Er führt dort sicher | |
| väterliche Fachgespräche mit Marias Josef, weniger über ihre aus der Art | |
| geschlagenen Söhne als über Mittelpfetten, Walmdächer und Ständerwerke. | |
| Immerhin war mein Vater ebenfalls Zimmermann. Das bleibt man auch über den | |
| Tod hinaus. | |
| 25 Aug 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernd Gieseking | |
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