| # taz.de -- Actionkomödie „Bullet Train“ im Kino: Erfolgsrezept der Neunzi… | |
| > Die Actionkomödie „Bullet Train“ von David Leitch versetzt Brad Pitt als | |
| > trotteligen Auftragskiller in einem Schnellzug in rasenden Stillstand. | |
| Bild: Bei dem Service der Bahn kann man ja nur ausrasten: Ladybug (Brad Pitt, r… | |
| Wenn der Kinosommer 2022 eines belegt, dann wohl, dass ein Schuss Nostalgie | |
| den Erfolg nur befördern kann. Um es noch einmal zu rekapitulieren: Der | |
| bislang erfolgreichste Film des Jahres ist „Top Gun: Maverick“, das vormals | |
| alles andere als heiß erwartete Sequel zu einem Kinohit aus dem fernen Jahr | |
| 1986. Seit zehn Wochen hält sich das Tom-Cruise-Projekt, das in sauberer | |
| 2022-Ästhetik den schmierigen Mix aus Patriotismus, Halsstarrigkeit und | |
| Männerheldentum von damals präsentiert, in den Top Five nicht nur der | |
| amerikanischen Kinocharts. | |
| Da muss sich ein Film, der so tut, als sei „Pulp Fiction“ (1994) gerade | |
| erst herausgekommen, nicht schämen. Jedenfalls nicht dafür, dass er das | |
| Erfolgsrezept von Tarantino wiederholen will, jene mindestens so schmierige | |
| Mischung aus blutspritzender Action und selbstgefälligem Geschwätz. Wer bei | |
| „Royale with cheese“ nicht John Travolta mit Pferdeschwanz vor Augen hat, | |
| werfe den ersten Stein. | |
| In „Bullet Train“, dem dann doch von einiger Erwartung begleiteten neuen | |
| Film des „Atomic Blonde“-Regisseurs und vormaligen Stuntmans David Leitch, | |
| reden die Verbrecher also auch gern und viel. Das beginnt mit dem von Brad | |
| Pitt gespielten Auftragskiller „Ladybug“, der über Handy und Ohrstöpsel | |
| seiner „Betreuerin“ Maria (Sandra Bullock) fortwährend sein Leid klagt, | |
| während er sich aufmacht, in Tokio den titelgebenden Schnellzug nach Kioto | |
| zu besteigen. Ladybug glaubt nämlich, vom Pech verfolgt zu sein, was nicht | |
| ohne Ironie ist, denn schließlich gilt Ladybug („Marienkäfer“) auch den | |
| englischsprachigen Abergläubischen als Glücksbringer. | |
| Ohne zu viel zu spoilern, kann man verraten, wie es um das Verhältnis von | |
| Glück und Pech bei Ladybug in Wahrheit bestellt ist: Vom Bordstein weg | |
| tritt er in eine tiefe Pfütze; der Ärger darüber lässt ihn die | |
| entscheidende Sekunde zögern, die es gebraucht hätte, damit ihn der | |
| vorbeifahrende Bus erwischt. Sei es „Glück im Unglück“ oder „blessing in | |
| disguise“, ein fliegendes Messer, das gerade noch die Kurve kriegt, oder | |
| eine hochgiftige Schlange und ihr Gegengift – auf jeden Fall hat „Bullet | |
| Train“ seinen Spaß damit, das Thema für Brad Pitts Figur in immer neuen | |
| Konstellationen und Situationen durchzuspielen. Es sind mitunter die | |
| spannendsten Momente, gerade weil man eigentlich weiß, worauf sie | |
| hinauslaufen; auf jeden Fall sind es mit die vergnüglichsten in den 126 | |
| Minuten, die der Film dauert. | |
| ## Die Darsteller hätten etwas anderes verdient | |
| Schon recht schnell geht einem dagegen das Geschwätz des zweiten | |
| dampfplaudernden Verbrecherpaars auf die Nerven: Lemon (Brian Tyree Henry) | |
| und Tangerine (Aaron Taylor-Johnson). Von denen, die sie kennen, werden sie | |
| auch „die Zwillinge“ genannt, obwohl sie – soll man darüber lachen? – … | |
| äußerlich so deutlich voneinander unterscheiden. | |
| Da „Bullet Train“ zu jener Sorte Film gehört, der seine Rätsel zwar spät, | |
| aber restlos auflösen will und außerdem sowieso gerne erklärt, gibt es dazu | |
| an entscheidender Stelle ein Flashback. Der intendierte Humor, der sich | |
| entweder an ihrem gegensätzlichen Aussehen oder an ihren „fruchtigen“ | |
| Pseudonymen aufhängt, wird dadurch nicht besser. | |
| Die Darsteller jedenfalls hätten etwas anderes verdient. Brian Tyree Henry | |
| („Atlantas“ Paper Boi) schlägt sich nicht schlecht mit englischem Akzent, | |
| und Aaron Taylor-Jones verleiht der „Schönling mit Schnauzbart“-Rolle eine | |
| interessante Verletzlichkeit. Das Drehbuch aber gibt ihnen außer Flashbacks | |
| und anstrengenden Verweisen auf die Kinderserie „Thomas, die kleine | |
| Lokomotive“ leider kaum etwas Entscheidendes zu tun. | |
| Die Beschreibung trifft letztlich auf die Mehrzahl der Verbrecher zu, die | |
| sich aus zunächst noch unbekannten Gründen alle im Schnellzug nach Kioto | |
| befinden und nach und nach feindlich aufeinanderstoßen. Zwei von ihnen sind | |
| entschuldigt, weil sie so schnell sterben, dass sie nur noch als | |
| aufgepfropfte Leichen mit Verkleidung ins Geschehen eingreifen können. Der | |
| große Rest aber wirkt geradezu statisch, trotz der ständigen Bewegung des | |
| Schnellzugs – und trotz der zahlreichen, bestens durchchoreografierten | |
| Actionsequenzen, die in hübscher Abwechslung mal in der ersten, mal in der | |
| zweiten Klasse, mal in der Bar, mal im Vorratsraum und mal in der Zugküche | |
| angesiedelt sind. | |
| ## Was wirklich erzählt werden soll, entzieht sich ständig | |
| Es kommt zu diesem merkwürdigen Paradox, das das Actionkino der Gegenwart | |
| oft befällt: In jedem Bild, in jeder Einstellung passiert etwas, aber | |
| nichts ändert sich je wirklich. Die Kamera zoomt und fliegt, die | |
| Auftragskiller plotten und killen, oft in Zeitlupe und mit allzu passender | |
| Musik unterlegt, Messer fliegen, Schüsse werden abgelenkt, ja, auch | |
| Faustschläge werden ausgeteilt. Aber das alles könnte das | |
| Promotionsmaterial für den eigentlichen Film sein. Was wirklich erzählt | |
| werden soll, entzieht sich ständig – auch weil am Ende ja alles | |
| Überraschung bleiben soll. | |
| Der Film geht auf den Erfolgsroman des japanischen Autors Kōtarō Isaka | |
| zurück, den Beschreibungen nach ein echter Page-Turner. Ob sich im Buch | |
| wohl auch die gesamte erste Hälfte anfühlt, als wäre man noch bei der | |
| Einführung? Sei es die in Schuluniform posierende „Prince“ (Joey King), die | |
| ihre Mission dem von ihr erpressten Kimura (Andrew Koji) darlegt, der | |
| wiederum als Sohn des Yakuza-Veteranen „The Elder“ (Hiroyuki Sanada) einen | |
| Auftrag hat, oder Figuren wie „The Wolf“ (Rapper „Bad Bunny“ alias Beni… | |
| A. Martínez Ocasio), „The Hornet“ (Zazie Beetz) und „White Death“ (des… | |
| Besetzung als Überraschungscoup absichtlich lang hinausgezögert wird) – sie | |
| alle werden vorgestellt, als befänden wir uns in einem Comic: mit dicken | |
| Überschriften und szenischen Illustrationen. Wogegen nichts zu sagen wäre, | |
| wenn auf all diese Introduktionen nur mehr folgen würde als nur wieder die | |
| nächste Actionszene. | |
| Böswillig gelesen, liegt darin eine Antwort auf die Kontroverse, die es um | |
| die Besetzung von ursprünglich japanischen Figuren mit einer Menge Briten, | |
| Amerikanern und anderen Nichtasiaten gab: Nichts an diesem Film will | |
| konkret „verortet“ sein. | |
| Da man die Geschichte eines modernen Hochgeschwindigkeitszugs nun einmal | |
| nicht in die bahntechnisch weit zurückgefallenen USA versetzen konnte, | |
| spielt „Bullet Train“ nur der Idee nach noch in Japan, einem Comic-Japan, | |
| das einen gewissen exotischen Hintergrundgeschmack liefert. Normale | |
| Passagiere – mit der bezeichnenden Ausnahme zweier Weißer – spielen ohnehin | |
| keine Rolle und scheinen bald auch alle ausgestiegen, um den Killern nicht | |
| im Weg zu sein. | |
| Damit zurück zur Frage des Zusammenhangs von Nostalgie und Kinoerfolg: | |
| Quentin Tarantino gelang es in den 90ern, die gewissermaßen „zwielichtigen“ | |
| Genres aus Videothek und Bahnhofskino ins Arthouse-Bewusstsein und ins | |
| Mainstreamkino zu bringen. Das hatte auch etwas Melancholisches an sich. | |
| Was „Bullet Train“ fehlt, ist ein Bewusstsein dafür, wie abgegriffen diese | |
| Art der Gangsterdarstellung inzwischen ist. John Travolta und Samuel | |
| Jackson über die erotischen Implikationen der Fußmassage diskutieren zu | |
| lassen, während sie ihrem Job als Auftragskiller nachgehen, wirkte | |
| befreiend und genresprengend. Der Humor in „Bullet Train“ dagegen verlässt | |
| sich so sehr auf das coole Gebaren seiner Verbrecher, dass ihre Welt noch | |
| enger wird, als sie es durch das künstliche Setting schon ist. | |
| Auf der anderen Seite soll nicht immer behauptet werden, das Frühere sei so | |
| viel besser gewesen. Filme wie „Bullet Train“, von deren prominenter | |
| Besetzung und comichaften Überzeichnungen man sich zwei Stunden lang | |
| unterhalten lässt, um sie danach getrost wieder zu vergessen – sind auf | |
| ihre Weise vielleicht Befreiung genug. | |
| 4 Aug 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
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| Organisierte Kriminalität | |
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