# taz.de -- Selbstbestimmung um jeden Preis: Bloß weg mit Hormonen und Gefühl… | |
> Über ihren Körper wollen junge Feministinnen heute selbst bestimmen. Wenn | |
> dessen Bedürfnisse nicht in ihr Konzept passen, bekommen sie Stress. | |
Bild: Mit oder ohne Topping? Sexualität ist ambivalenter als der Kauf eines Sm… | |
[1][Meine Friseurin und ich], wir sind ja nicht mehr die Jüngsten. Als wir | |
Teenager waren, hatten unsere Eltern gerade das erste Tastentelefon | |
angeschafft und H&M gab es nur in den Großstädten und dort auch nicht an | |
jeder Ecke. Und niemals hätte das schwedische Modelabel „feminist“ auf | |
seine T-Shirts gedruckt. Wie alt ich bin, merke ich, wenn ich Texte der | |
jüngsten Feminist:innen-Generation lese, also derjenigen, die ohne | |
logopädische Hilfe Gender-Sternchen artikulieren kann und H&M boykottiert, | |
weil „feminist“ nur ein Aufdruck ist und keine unternehmerische Haltung. | |
In vielen dieser Texte geht es um körperliche Selbstbestimmung und sie | |
erwecken den Eindruck, als könnten weiblich gelesene Menschen in dieser | |
Hinsicht quasi alles selbst entscheiden. Vorausgesetzt, sie entstammen | |
normal gestörten Familien, haben die richtigen Kontakte und das nötige | |
Kleingeld. | |
Aber dann sind ihrer Selbstbestimmtheit kaum Grenzen gesetzt, und wenn | |
doch, reagieren sie höchst empfindlich, wie auf diesen [2][sagenhaft | |
nazimäßigen Paragrafen 218], der Menschen mit Uterus in eine Reihe mit | |
Mördern stellt, wenn sie nicht jede befruchtete Eizelle in ihren Bäuchen zu | |
einem Kind heranreifen lassen wollen. | |
Das erscheint ihnen zurecht als ein irrer Zugriff des Staates auf ihren | |
Körper, ein Zustand, den wir Älteren fast ein Vierteljahrhundert verdrängt | |
hatten. Bis diese Ärztin aus Gießen darauf aufmerksam machte, dass das | |
Internet zwar das beste Rezept für veganen Käsekuchen ausspuckt – aber | |
nicht, wer eine Schwangerschaft beendet und mit welcher Methode. | |
## Nicht von der Lust treiben lassen | |
Das liegt daran, dass der Gesetzgeber befürchtet, dass Menschen mit Uterus | |
ihrer Gebärpflicht nicht nachkommen, wenn man ihnen Abtreibungen zu leicht | |
macht. Immerhin das Informationsverbot will die Ampel am Donnerstag | |
abschaffen, und das liegt auch daran, dass junge Frauen heute so großen | |
Wert auf Selbstbestimmung legen. | |
Aber hin und wieder wundere ich mich darüber, wie frei von jeglichen | |
Einflüssen durch Hormone oder Gefühle sie sein wollen. Wenn diese mich | |
daran erinnern, dass ich auch nur ein Säugetier bin, finde ich persönlich | |
das angenehmer, als wenn mir das jemand anderes einreden will, weil ihm | |
(seltener: ihr) das hilft, Macht über mich zu behalten. Aber diese jungen | |
Feminist:innen, so scheint mir, wollen davon eher gar nichts hören. | |
Wenn ich die Texte richtig verstehe, lassen sie sich etwa beim Sex nicht | |
von ihrer Lust treiben und schon gar nicht von ihr überwältigen, sondern | |
überlegen stets, worauf ihnen gerade der Sinn steht, bevor sie einer | |
Praktik zustimmen. [3][Das nennen sie konsensualen Sex] und weil sich | |
Körpersprache mutwillig missverstehen lässt, muss es ein verbalisiertes | |
„Ja“ oder „Nein“ sein. Ich verstehe die Intention dahinter, bin aber se… | |
nicht in der Lage, in jeder Situation mit kühlem Kopf das Für und Wider | |
meiner Handlungsoptionen abzuwägen. Das liegt vielleicht daran, [4][dass | |
Sexualität ambivalenter ist] als der Kauf eines Smoothies. | |
Genauso halten sie es mit allen Fragen der Reproduktion. Sie wollen | |
entscheiden, wann und mit wem sie ein Kind bekommen, ob sie es betäubt oder | |
unter Schmerzen gebären, per Sectio herausschneiden oder auch gleich von | |
jemand anderem austragen lassen. Und wenn das Kind dann da ist, wollen sie | |
sich für oder gegen das Stillen entscheiden dürfen, und auch, ob sie zum | |
Muttertier mutieren, das sich für kaum etwas anderes interessiert als für | |
die eigene Brut oder ob sie es mit drei Monaten in die Kita geben, weil ein | |
Kind die Sache mit der Selbstbestimmung schon arg erschweren kann. | |
Und dann darf frau sich noch nicht einmal beschweren, weil sie das Kind ja | |
aus freien Stücken bekommen hat und nicht, weil ihr keine anderen Wege der | |
Selbstverwirklichung offen standen oder weil es keine Verhütungsmittel gab. | |
Zumindest den Wunsch nach Übersichtlichkeit kann ich gut verstehen. | |
3 Jul 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Leben-als-weiblich-gelesene-Person/!5809086 | |
[2] /Selbstbestimmt-leben/!5859268 | |
[3] /Konsens-beim-Sex/!5819081 | |
[4] https://www.newyorker.com/magazine/2021/10/04/were-shaped-by-our-sexual-des… | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
## TAGS | |
Kolumne Beim Friseur | |
Kolumne Unisex | |
Kolumne Beim Friseur | |
Schwerpunkt Paragraf 219a | |
Schwerpunkt #metoo | |
Gender | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Physische Selbstbestimmung: Unsere Körper gehören uns! | |
Ob gerade im Iran oder in Russland: Je nach Geschlecht wird dem Körper eine | |
Vielzahl vermeintlicher Funktionen aufgezwungen. Zeit, ihn zurückzufordern. | |
Männer in Kontaktanzeigen: Suche alles, biete nix | |
Ob in der „Zeit“ oder im Bremer Stadtmagazin „Mix“: Männer haben in | |
Kontaktanzeigen meist sehr konkrete Vorstellungen. Und was haben sie selbst | |
drauf? | |
Selbstbestimmt leben: Treibt Paragraf 218 ab | |
Endlich fällt das Informationsverbot für Schwangerschaftsabbrüche durch | |
Paragraf 219a. Abtreibungen bleiben dennoch weiterhin strafbar. | |
Konsens beim Sex: Männer wollen nicht immer | |
Frauen machen sich zu wenig Gedanken darüber, ob sie Grenzen bei Männern | |
überschreiten. Auch Männer haben nicht immer Lust auf Sex. | |
Leben als weiblich gelesene Person: Ewig fruchtbar bis ins hohe Alter | |
Bei männlich gelesenen Personen wird mehr gelesen als ihr Äußeres, zum | |
Beispiel ihre Artikel zu brennenden Fragen der Zeit oder ihr Kontoauszug. |