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# taz.de -- Die Wahrheit: Kolosseum der Selbstdarstellung
> Tagebuch einer Flaneurin: Ob softpornöse Selfieshooter oder goldige
> Zuhältertypen, auf den Straßen sind schauderliche Selbstdarsteller
> unterwegs.
Während das Volk unter steigenden Benzin- und Dönerpreisen ächzt, breitet
sich galoppierend eine andere Inflation aus: die Ausstellung intimer
Vorgänge in der Öffentlichkeit. Die Welt, ein modernes digitales Kolosseum,
in dem Menschen sich wochenlang am bluttriefenden Gerichtsprozess zweier
Hollywoodstars delektieren und die Hauptdarsteller wie die Mitglieder des
jeweiligen feindlichen Unterstützerteams nach Herzenslust hassen.
In den Feuilletons wurde behauptet, man sei gegen den eigenen Willen ins
Binge Watching gezogen worden, nur um sich dann über die Manipulation der
eigenen Sinne durch den tagein, tagaus übertragenden Sender Law & Crime zu
beklagen. Im Pseudofachjargon wurde von „histrionischer Störung“ berichtet,
womit allerdings keine Allergie gemeint war, sondern der Drang zu
übertriebener Selbstdarstellung bezeichnet wird.
Stichwort Selbstdarstellung: Längst weiß jeder, dass Sexszenen in Filmen zu
99 Prozent total cringe sind, aber es hindert niemanden daran, vor aller
Augen mitten auf der Straße Selfies in softpornösen Positionen zu
verfertigen. Man möchte den histrionisch gestörten Darstellern, bevor sie
ihr schauderliches Werk posten, noch schützend in den Arm fallen, was aber
vermutlich ebenso cringe wäre.
Obwohl mir die privaten Ränke und Störungen egal welcher Gaukler sonst wo
vorbeigehen, bin ich durchaus im 21. Jahrhundert angekommen und will weder
die Telefonwählscheibe noch die Mauer zurückhaben. Sollen die Menschen
tiktoken oder sich vor Gericht zerfleischen, it takes all kinds of people
to make a world. Ich möchte nur bitte so wenig wie möglich daran teilhaben
müssen.
In meinem Kiez gab es lange einen Überschuss an Optikern und Friseuren,
inzwischen haben alle die Haare schön, und in frei gewordene Läden ziehen
Nagelstudios ein, die irgendwas mit „Beauty“ heißen. Von außen sind sie m…
Plastikkirschzweigen und pinkfarbenen Luftballons dekoriert, drinnen sitzen
junge Frauen in einer rosa Hölle und lassen sich mit Kunstfingernägeln
bekleben. Wenn noch ein Café dabei ist, nennt sich das Ganze „Beauty Bar“,
und draußen lungern breitbeinig in Lounge Chairs mit reichlich Bling
dekorierte Männer, die leider weniger auf ihre Schönheit als auf Umsatz
bedacht sind.
Vielleicht ist so eine von Zuhältertypen bewachte pinkisierte Welt ein
angenehmer Ort sogenannter Selbstfürsorge, wer weiß. Neulich sah ich eine
junge Frau, direkt aus einem Nagelstudio kommend, vor einer ausgedörrten
Kübelpflanze für ein Selfie posen. Zwischen jedem Shot fuhr sie mit langen
Nägeln sorgfältig durch ihr glänzendes Haar und verdrehte sich dabei derart
lockend, dass sie kurz das Gleichgewicht verlor und beinahe in den Kübel
fiel.
Vielleicht träumte sie davon, ein Star zu werden, mit der traurigen Pflanze
im Hintergrund darf man hoffen, dass es schiefgeht, bevor sie am Ende doch
nur den Löwen zum Fraß vorgeworfen wird.
9 Jun 2022
## AUTOREN
Pia Frankenberg
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Flaneurin
Selfie
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Krieg
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