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# taz.de -- Schwarzer Gurt mit 88 Jahren: „Hau rein, Lilli“
> Ottilie Kopetz hatte immer ein bewegtes Leben. Als sie sich nicht mehr
> gut die Socken anziehen konnte, lernte sie Taekwondo. Denn was ist schon
> Alter?
Bild: 88 Jahre war Lilli Kopetz alt, als sie die Schwarzgurtprüfung im Taekwon…
Dicht gedrängt sitzen Menschen in der Kampfsportschule Miethig südlich von
München um den Mattenboden. Ottilie Kopetz, die hier nur Lilli genannt
wird, steht in der Mitte. Sie trägt einen Taekwondo-Anzug, den Dobok, um
die Taille den roten Gürtel. Bald soll er schwarz sein.
Vor [1][dem südkoreanischen Meister Ko Eu-Min], der eigens in die
Taekwondo-Schule gekommen ist, um ihre Schwarzgurtprüfung abzunehmen, hat
sie zuvor Fauststöße, Abwehrtechniken, Kicks und Tritte gezeigt. Jetzt
steht die letzte Aufgabe an: der Bruchtest. Drei Holzplatten muss sie
durchschlagen. Drei Männer, alle „Schwarzgurte“, stehen um sie herum. Jeder
hält ihr ein Brett entgegen.
Lilli prüft den richtigen Abstand, wechselt noch mal den Fuß, deutet einige
Schläge in der Luft an. Dann geht es schnell. Mit dem abgewinkelten rechten
Arm holt sie aus und schwingt ihren Ellbogen entschlossen mitten auf die
Platte. Mit einem hellen Krachen bricht das Holz. Die Zuschauer sind
mucksmäuschenstill.
Lilli fokussiert ihr nächstes Ziel. Dann fährt ihr linker Unterarm wie eine
Klinge durch die Luft; mit einem Handkantenschlag spaltet sie das zweite
Brett. Fehlt noch das dritte. Diesmal führt Lilli einen Fauststoß aus –
wieder kracht es. Jetzt brandet Beifall auf, „Bravo!“, alle freuen sich mit
Lilli, die soeben, im Alter von 88 Jahren, ihre Schwarzgurtprüfung
bestanden hat. Ein Einzelfall sei sie in Deutschland, sagt Meister Ko, der
Prüfer, als er ihr gratuliert. Im Dezember 2019 war das.
## Gemeinschaft im Sport
Zwei Jahre später sitzt Lilli, die sich nicht vorstellen kann, anders
genannt zu werden, in der „Blumenhöhle“ in ihrer Wohnung. Die Dachschräge
über der Sitzgruppe ist mit Rosenranken tapeziert, deshalb heißt die Ecke
so. Aus dem Fenster fällt der Blick auf die bayerische Voralpenlandschaft.
Sie hat sich eine Jacke über die Schultern gelegt. Das Netz aus Falten im
Gesicht verheimlicht ihr Alter nicht. Denn was ist Alter?
Angefangen hat Lilli mit Taekwondo, als sie vor ein paar Jahren ihre heute
13 Jahre alte Enkeltochter Ella zum Kampfsport im Dojang, dem
Trainingsraum, begleitete und ihr zuschaute, wie sie sprang, wie sie
kickte. „Da hab ich angebissen.“
Einmal, so berichtet sie, habe sie zum Besitzer der Taekwondo-Schule
gesagt: „Das sieht so schön aus, da möcht ich am liebsten mitmachen!“ „…
mach doch mit“, hat der geantwortet. „Damals hab ich mir gedacht: Der
spinnt“, erzählt sie. So ungelenkig, wie sie mit 84 Jahren gewesen sei.
„Ich konnte mich nur schwer bücken; und Schnürsenkel binden oder Socken
anziehen, ach Gott, das war ein Drama.“ Trotzdem, es lässt sie nicht los.
Sie steigt ein. Jeden Dienstagmorgen, 9 Uhr, der Anfängerkurs, „Taekwondo
light“ mit viel Aufwärmen und Dehnübungen.
Und es zeigt Wirkung: „Ich habe bald gemerkt, wie ich wieder beweglicher
wurde, ich konnte mich wieder alleine anziehen, ich kam wieder ohne fremde
Hilfe aus der Badewanne; das Treppensteigen fiel mir leichter.“ Und noch
etwas war anders. „Im Sport erlebe ich Gemeinschaft, vorher habe ich außer
der Familie nur wenige Menschen gesehen.“
Vor allem in der Coronazeit ging sie in den Dojang, sobald es erlaubt war
und sie ihre Impfungen hatte.
## Lillis Handkantenschläge sind hart
Ein Abend in der Taekwondo-Schule, Musik von AC/DC fegt durch den Raum. Es
ist freies Training, jeder übt, was er will. Ein gutes Dutzend Leute sind
da, Kinder, Jugendliche, Erwachsene – in allen Gurtfarben. Lilli trainiert
mit ihrer Tochter Judith, auch sie ist Schwarzgurtträgerin. Sie hält ihrer
Mutter ein dickes Polster entgegen, das in der Mitte einen roten Punkt hat.
Lilli platziert ins Ziel ein paar Ellbogenstöße und Kniestöße. „Hau rein,
Lilli!“, sagt ein Mann neben ihr.
Besonders gut ist Lilli im Hanbon Kyorugi, einer Selbstverteidigungsübung,
bei der die Rollen von Angreifer und Verteidiger festgelegt sind. Auch wenn
hier alles nur ritualisiert ist, einer Choreografie folgt – Lillis
Handkantenschläge sind hart.
Eine Herausforderung, sagt sie, seien die Poomsae: vorgeschriebene
Bewegungsabläufe, die Kampfsituationen gegen einen imaginären Gegner
darstellen. Aktuell übt sie die achte Form, die Taegeuk Pal Jang, in der
sich zeitlupenhafte und dynamische Bewegungen abwechseln.
Mit ihrer Beinarbeit ist sie allerdings nicht zufrieden. „Ich kriege die
Knie nie so richtig hoch.“ Deswegen geht sie neuerdings auch zum
Thai-Boxen. „Dieses Rumtänzeln und die Füße schnell bewegen – das tut mir
gut.“
Dass es Kampfsport ist, was sie macht, findet Lilli nicht befremdlich. „Ach
wissen Sie, das Kämpfen, das hab ich schon früh lernen müssen!“ sagt sie.
## Die Eltern in Blautönen
Ursprünglich stammt sie aus dem Sudetenland. Die Kindheit hat sie in
Schlesisch Wolfsdorf, heute Vlkovice in Tschechien, verbracht. 1946 wurde
sie mit ihrer Familie ausgewiesen, da war sie 14. Alles war verloren, der
elterliche Bauernhof, das Lebensgefühl, die Heimat. „Das war sehr hart.“
Aber sie hegt keinen Groll gegen die Tschechen. „Schließlich hatte
Deutschland einen Weltkrieg begonnen, und Millionen Menschen mussten dafür
einen hohen Preis bezahlen.“
Bevor sie gehen mussten, hätten Nachbarn noch versucht, zu helfen. Eine
tschechische Familie schützte die ältere Schwester vor Vergewaltigung durch
russische Soldaten. Ein anderer Nachbar wiederum übernahm als
Gutsverwalter eine Zeit lang die Landwirtschaft, damit die Familie bleiben
konnte. Es half nichts. „Eines Nachts brannte der Dachstuhl, es war
Brandstiftung und eine Warnung auch an solche Tschechen, die uns
unterstützten.“
Lillis Familie wird vertrieben. „Sechzig Kilogramm durften wir mitnehmen“,
sagt sie. Von ihrem Ohrensessel aus zeigt sie auf eine altmodische
Nähmaschine mit schwerem metallenen Pedal. „Die war auch mit dabei.“
Außerdem eine Holztruhe mit Werkzeug und eine eiserne Milchkanne. Sie sei
jung gewesen, konnte nach vorne schauen, das Verlorene hinter sich lassen,
„bei den Eltern blieb die Traurigkeit“. An der Wohnzimmerwand hängt ein
Bild in Blautönen, Lilli hat es gemalt. Es zeigt ihre Eltern als liegendes
Paar unter einem Baum, dahinter der einstige Bauernhof mit seiner
schützenden Vierkantform. Ein wenig wie bei Marc Chagall.
Der aktuelle Krieg in der Ukraine wühlt sie auf, er erinnert sie an ihre
Kindheitserlebnisse. Ihr Bruder, 18 war er und nur wenige Jahre älter als
sie, geriet 1945 als Soldat in den Kessel von Breslau. „Er ist nicht mehr
heimgekommen.“ Lilli hofft, dass aus den jetzigen Flüchtlingen keine
Vertriebenen werden, sondern sie eines Tages wieder eine Heimat haben.
## Der Osten bleibt nahe
Gerne wäre sie, als sie mit ihrer Familie bei Kirchseeon östlich von
München landet, weiter zur Schule gegangen. Das ging nicht. Die Eltern
beschließen, sie in eine Lehre zu geben, im Haushalt eines
landwirtschaftlichen Betriebs. „Dort hab ich schwere Säcke heben müssen.
Ich habe daher in meinem Oberkörper immer viel Kraft gehabt, das hilft mir
heute beim Taekwondo.“
Der Osten sei ihr innerlich immer nah geblieben. Geheiratet hat sie einen
„von drüben“, einen Sprengmeister, der im Bergbauunternehmen Wismut in
Ostdeutschland gearbeitet hatte. „Er war ein eingefleischter Kommunist,
aber als er merkte, auf was die DDR zusteuert, hat er sein Parteibuch
zurückgegeben und ist in den Westen.“ Dort habe man ihn wenig willkommen
geheißen, erinnert sich Lilli. „Wenn einer zuvor bei den Kommunisten
gewesen war, hat er im Westen keine Laufbahn mehr gehabt.“
Zunächst arbeitete ihr Mann, der neben Ingenieurswesen auch noch
Politikwissenschaften studiert hatte, als Milchausfahrer, dann wurde er
Taxifahrer – mit eigener Droschke. „Auf Rosen sind wir nie gebettet
gewesen“, sagt Lilli. Trotzdem spielen Rosen und ein Schloss eine Rolle in
ihrem Leben.
15 Jahre wohnte sie in einem, und das kam so: Eine seiner Taxifahrten führt
Lillis Ehemann zu einer Ikonenausstellung. Er nimmt von dort einen Prospekt
mit, in dem ein Ikonenmalkurs auf dem niederbayerischen Schloss Hofberg
beworben wird. Lilli liebt die byzantinisch-orthodoxen Heiligenbilder mit
dem Goldhintergrund. Sie meldet sich an. Der auf einem Hügel gelegene Platz
nimmt sie ein, die historischen Gebäude, die kleinen Innenhöfe. Sie mag die
Atmosphäre, die der Leiter des Kulturzentrums, der zugleich der Bischof der
christlich-orthodoxen Gemeinde in Deutschland ist, geschaffen hat. Immer
wieder bucht sie von nun an Malkurse.
Die verwahrlosten Rosenrabatten auf dem Schlossgelände sind ihr allerdings
ein Dorn im Auge. Einmal bietet sie dem Bischof an, ein großes Beet zu
jäten. Mit einer Freundin rückt sie an. „Wir mussten die Rosensträucher
ausgraben, um die Brennnesseln auszureißen, und danach die Stöcke wieder
einpflanzen.“ Eine schwere, kratzige Arbeit. Das Ergebnis allerdings ist
prachtvoll.
Der Bischof macht Lilli einen Vorschlag: Sie solle mit ihrem Mann aufs
Schloss ziehen und für das orthodoxe Kulturzentrum arbeiten. Sie könnte die
Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Malkurse bekochen und den Garten in
Ordnung halten. Das Ehepaar ergreift die Chance. Lilli zeigt Fotos aus der
Zeit. Lilli in der Schlossküche, Lilli in den Rosenbeeten, Lilli neben blau
schillernden Pfauen, die durch den Klostergarten schreiten.
Bis im Jahr 2011 Lillis Ehemann stirbt. Wenig später entscheidet sie, in
die Nähe ihres Sohnes und seiner Familie in München zu ziehen. „Ich dachte,
jetzt werde ich Rentnerin, gärtnere und hüte die Enkelkinder“, erzählt sie.
„Es war falsch gedacht.“
5 Jun 2022
## LINKS
[1] http://www.masterko.de
## AUTOREN
Margarete Moulin
## TAGS
Kampfsport
Vertreibung
Gesundheit
Senioren
Der Hausbesuch
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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