# taz.de -- Verklappung und Verpestung: Die im Graphitregen stehen | |
> Die niederländische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den | |
> Stahlfabrikanten Tata Steel. Grund: mutmaßliche vorsätzliche | |
> Umweltverschmutzung. | |
Bild: Tata Steel in Ijmuiden | |
AMSTERDAM taz | Für die Menschen der Hafenstadt Ijmuiden gibt es Anlass zur | |
Hoffnung: Die niederländische Staatsanwaltschaft kündigte im Februar | |
strafrechtliche Ermittlungen gegen Tata Steel an. Es geht um die Frage, ob | |
vom Gelände des indischen Multinationals, gelegen an der Mündung des | |
Nordseekanals, vorsätzlich schädliche Stoffe in Luft, Boden oder Wasser | |
gebracht wurden. Laut Artikel 173 des niederländischen Gesetzbuchs ist dies | |
strafbar. | |
Der Fabrikkomplex von Tata Steel, mit 750 Hektar das größte | |
Industriegelände des Landes, hat die höchsten CO2-Emissionen aller in den | |
Niederlanden ansässiger Unternehmen – 12,3 Millionen Tonnen jährlich. Dazu | |
häufen sich seit Jahren ökologische Hiobsbotschaften: Der Ausstoß | |
sogenannter Polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe (PAK) und | |
Stickstoffoxide liegt jenseits zulässiger Werte. Messpunkte in der Nähe | |
weisen stark erhöhte Feinstaubwerte auf, und sogenannter Grafitregen in der | |
Umgebung enthält die vor allem für Kinder gefährlichen Schwermetalle Blei, | |
Mangan und Vanadium. | |
Anfang 2021 reichte Anwältin [1][Bénédicte Ficq] eine Sammelklage ein, der | |
sich bisher rund 1.200 Anwohnende anschlossen. Ficq ist in den | |
Niederlanden mit dem Versuch bekannt geworden, die Tabakindustrie | |
strafrechtlich verfolgen zu lassen. Ihre Klage wurde 2018 jedoch | |
abgewiesen. Als „sehr wichtigen Schritt vorwärts“ begrüßt die Anwältin … | |
das neue Ermittlungsverfahren. „Wir haben Anzeige wegen einer schweren | |
Straftat erstattet: kriminelle Luftverschmutzung mit Gefahr für die | |
Gesundheit. Hielte die Staatsanwaltschaft das für unbegründet, würde sie | |
diesen Schritt nicht gehen.“ | |
Die Indizienlage scheint tatsächlich deutlich: Eine Studie des staatlichen | |
Gesundheitsamts RIVM aus dem Jahr 2020 beziffert das Lungenkrebsrisiko im | |
Nachbarstädtchen Beverwijk als um 27 Prozent höher als im | |
Landesdurchschnitt. Laut niederländischer Medien haben manche Gebiete der | |
Umgebung sogar 51 Prozent mehr Risiko. Im Januar kam eine weitere | |
RIVM-Untersuchung zu dem Schluss, dass die Emissionen Tata Steels viel | |
höher liegen als die Werte, die das Unternehmen selbst nennt. So wurde | |
sechsmal mehr Blei und 30-mal mehr Vanadium ausgestoßen als angegeben. Die | |
Werte mancher PAK liegen gar bis 1.000-mal höher. | |
## Mehr Krankheiten | |
Der Ijmuidener Hausarzt Luc Verkouteren ist in seiner Praxis regelmäßig mit | |
den Auswirkungen konfrontiert. „Es gibt in der Region viel mehr | |
Krebserkrankungen, aber auch Herz-, Gefäß- und Lungenkrankheiten wie COPD | |
oder Asthma. Auch Diabetes ist häufig. Hier wird mit der Gesundheit der | |
Anwohnenden und der Belegschaft gespielt.“ Verkouteren sieht das Problem | |
auch in mangelnder behördlicher Aufsicht. Erst in den letzten Jahren | |
verstärkte die zuständige Provinz Noord-Holland – freilich zögerlich – d… | |
Druck auf Tata Steel. Mit rund 9.000 Beschäftigten und der Reputation als | |
Ikone der niederländischen Industrie war das als „Königliche Hochöfen“ | |
gegründete Unternehmen lange unantastbar. „Es ist traurig, dass etwas, das | |
eigentlich der Staat tun sollte, nun durch Bürger*innen und Gericht | |
geschieht.“ | |
Eine von ihnen ist Sanne Walvisch, die im stark betroffenen Küstendorf Wijk | |
aan Zee lebt. Sie ist eine der Gründerinnen der Stiftung FrisseWind.nu | |
(Frischer Wind, jetzt), die mit einer Sammelklage mehr Wirkung erzielen | |
möchte als viele einzelne Anzeigen es könnten. Nun will die Stiftung auch | |
den politischen Druck erhöhen. „Es hat sich etwas getan im letzten Jahr“, | |
erklärt Walvisch. „Bis dahin wurde das Thema als lokales Problem gesehen. | |
Landesweite Politik und Medien nahmen es nicht auf. Nun sieht man Tata als | |
den Verschmutzer, der er ist, und auch große Umweltorganisationen | |
beschäftigen sich endlich damit.“ | |
Dazu beigetragen hat nicht nur die Konjunktur von Klima- und Umweltthemen. | |
Speziell in den Niederlanden steht der Fall Tata Steel im Kontext der | |
erfolgreichen Urgenda-Klage, die 2019 den Staat zur umgehenden Reduzierung | |
von Emissionen verpflichtete. 2021 wurde der multinationale Konzern Shell | |
in Den Haag dazu verurteilt, seinen CO2-Ausstoß drastisch zu vermindern. | |
Die damalige Klägerin, die Umweltorganisation [2][Milieudefensie], wandte | |
sich im Januar per Brief an 29 weitere „Großverschmutzer“. Sie sollen bis | |
April einen Klimaplan vorlegen, sonst drohe auch ihnen eine Klage. Tata | |
Steel ist einer der Adressaten. | |
Das Unternehmen macht derweil erneut Schlagzeilen. Wie die Lokalzeitung | |
[3][Ijmuider Courant] enthüllte, lässt es Eisenerzreste und Steinkohle | |
illegal in der Nordsee entsorgen. Ferner zeichnen zwei Webcams, von | |
Anwohnern betrieben, die Emissionen des Stahlwerks auf. Die TV-Sendung | |
„Hart van Nederland“ berichtete von „giftigen Metallwolken“, die | |
ungefiltert aus den Schornsteinen kämen. Laut Anwältin Ficq könnten die | |
Aufnahmen wichtiges Beweismaterial liefern. | |
27 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.ficqadvocaten.nl/ | |
[2] https://milieudefensie.nl/ | |
[3] https://www.ijmuidercourant.nl | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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