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# taz.de -- Die Wahrheit: Der Besuch des jungen Mannes
> Nachts um eins die Wohnungstür öffnen, und schon menschelt es vom
> Feinsten mit Cliffhanger und allem drum und dran.
Womöglich lag es daran, dass ich ein bisschen getrunken hatte. Jedenfalls
dachte ich mir nichts dabei, als es klingelte. Wird wohl einer der Nachbarn
sein, der eines der Pakete, die wie immer in unserem Flur herumstanden,
abholen will.
Ich öffnete also die Tür, obwohl es nachts um eins war. Davor stand ein
junger Mann mit mutmaßlich türkisch-arabischem Migrationshintergrund. „Ja,
bitte?“, fragte ich. „Ich habe Angst“, antwortete er. So, so. Angst haben
zurzeit ja alle. Wegen Corona. Wegen dem Krieg. Vor einem Leben ohne
Sonnenblumenöl.
„Lassen Sie mich rein!“ – „Ich wollte gerade ins Bett gehen.“ – „…
habe Angst!“ Ich war ratlos. „Was willst du denn?“, fragte ich und
verzichtete darauf, ihn zurechtzuweisen, weil er mich respektloserweise
einfach so siezte. So was macht man nicht im Berliner Wedding. „Ich kann
Ihnen auch meinen Ausweis zeigen“, bot der Mann an und hielt mir sein Handy
mit einem QR-Code vor die Nase.
„Was soll ich denn mit deinem Impfpass?“ Er guckte mich groß an. „Ist ni…
mehr 2G? Braucht man das nicht mehr, um reingelassen zu werden?“ – „Ich
will dich eher grundsätzlich nicht reinlassen, nachts um eins und ohne
ersichtlichen Grund.“ – „Ich werde verfolgt!“ – „Da ist aber nieman…
„Er hat mich in der Straßenbahn angesprochen. Auf Türkisch.“ – „Ja, u…
„Woher wusste der, dass ich Türke bin? Der muss mich ausspioniert haben!“
## Jetzt die Polizei rufen
„Na ja“, ich zögerte kurz, „es ist jetzt aber ja nicht so unüblich, dass
Leute im Wedding türkisch sprechen.“ – „Rufen Sie die Polizei.“ Ich
seufzte: „Na gut.“ – „Und bleiben Sie bei mir an der Tür, bis die Poli…
da ist!“
Die rückte zum Glück bald darauf zu zweit an. Der Besucher fragte: „Haben
Sie einen Ausweis?“ – „Sicher“, sagte die Polizistin in beruhigendem
Tonfall. „Ich kann Ihnen auch meinen Ausweis zeigen!“, freute sich der
Besucher und wedelte mit seinem Handy mit dem Impfzertifikat herum. „Sehr
gut“, sagte die Polizistin, „drei von drei, hervorragend. Sie sind
geboostert, das ham wa gern. Und was ist jetzt das Problem?“ Der Besucher
erzählte von seiner traumatischen Begegnung, die Polizistin sagte: „Na, und
da hamse Angst gekriegt und sind dem Herrn hier hinterhergelaufen, ja?“
Er nickte. „Okay“, sagte die Polizistin, „dann gehen wir jetzt mal zusamm…
nach draußen und gucken, ob da jemand ist, ja? Und dann passen wir auf,
dass niemand Sie anspricht.“ Er nickte wieder. Er sah glücklich aus. Zu
dritt zogen sie ab. Ich war beeindruckt, wie souverän die beiden das gelöst
haben. Souveräner als ich jedenfalls. Ich hatte etwas weiche Knie. Mir
scheint, wir sind alle ein bisschen durch derzeit.
Da klingelte es schon wieder. Brauchen die noch eine Aussage von mir? Ich
öffnete die Tür. Ein Nachbar stand davor. „Ihr habt ein Päckchen für mich
angenommen?“ Ich schaute ihn mit großen Augen an. Dann seufzte ich und gab
es ihm raus. „Ausweis brauch ich nicht“, knurrte ich, „und Impfpass auch
nicht.“
13 May 2022
## AUTOREN
Heiko Werning
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Berlin-Wedding
Nachbarn
DHL
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