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# taz.de -- Die Wahrheit: Lob des Mainstreams
> Ach, wäre es doch möglich, religiös oder sozialdemokratisch oder Fan von
> Phil Collins zu sein. Geständnis einer Sehnsucht.
Gern nutze ich diese Kolumne für Geständnisse zwischen stalinistischer
Selbstkritik und christlicher Beichte. Es nützt ja nichts, sich als klüger
und witziger darzustellen, als man ist. Auch wenn man das in Zeiten von
Pandemie und Social Media oft vermeiden kann: Irgendwann begegnet man doch
mal echten Menschen auf Achselgeruchnähe, unterhält sich und – schwupps –
stellen sie fest, man ist viel doofer und öder, als man in seinen
Insta-Storys behauptet hat. Und die ganze schöne So-tun-als-ob-erei war
fürn Arsch. Mein heutiges Bekenntnis: Ich möchte Mainstream sein. Punkt.
Das einfach so stehenzulassen, ist schwer. Schließlich gehöre ich
verschiedenen Gesellschaftsgruppen an, die sich vor allem darüber
definieren, dass sie eben das nicht sind: wie die meisten.
So bin ich zum Beispiel durch die Schulpolitik der siebziger Jahre auf die
schiefe Bahn geraten und ins Bildungsbürgertum abgerutscht. Dort ist man ja
vor allem damit beschäftigt, sich vom RTL2-Proletariat abzugrenzen. Oder,
quasi binnenbildungsarrogant, als Fan des postdramatischen Diskurs-Theaters
klarzustellen, dass einen mit dem Spießer-Stadttheater-Abo-Publikum nichts,
aber auch gar nichts verbindet. Auch schön die Pop-Variante dieser
kulturellen Selbsterhebung: der Indie-Rock-Anhänger, der den
Mainstream-Popisten verachtet.
Politisch ist es ähnlich: Viele Leute, die ich kenne, belächeln Menschen,
die Mitglied einer Partei sind. Nicht, dass ich das nicht verstehen könnte,
angesichts von Fraktionszwang, den gestammelten Satzsimulationen von Olaf
Dingens, Toni Hofreiters Frisur oder Sahra Wagenknechts
Nationalbolschewismus. Und dennoch …
Sagen wir, wie es ist: Neben viel Abseitigem mag ich Taylor Swift, finde,
dass Phil Collins tatsächlich einige große Songs geschrieben hat und dass
das Schauen alter „Gilmore Girls“-Folgen keine „guilty pelasure“ ist,
sondern veritabler Kunstgenuss. Ich kann sogar „Law and Order – Special
Victims Unit“ vollkommen unironisch gucken. Und ja, jetzt isses auch egal,
jetzt sage ich alles: Irgendwas in mir wäre gern Mitglied der SPD oder der
evangelischen Kirche.
Auch wenn ich nicht an Gott glaube, mir beim üblichen EKD-Geschwafel übel
wird und die Sozialdemokraten in den letzten dreißig Jahren immer das
Gegenteil von dem getan haben, was ich für richtig halte. Aber es bleibt
diese naive Sehnsucht, andere Menschen nicht zu verachten und vielleicht
sogar zusammen mit ihnen an irgendwas zu werkeln, was nicht ganz schlecht
ist.
Zu glauben, ausgerechnet ich wüsste es besser, erscheint mir mitunter kurz
vor der Querdenkerei zu sein. Und es wird dem durchaus vielfältigen
Mainstream nicht gerecht. Egal ob im SPD-Ortsverein oder bei Netflix. Um es
mit Rio Reiser zu sagen, jemandem, der viel Übung darin hatte, sich aus der
Sekte der Wissenden herauszusehnen: „Ich bin anders, weil ich wie alle bin
und weil alle anders sind.“
27 Apr 2022
## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
SPD
Evangelische Kirche
Mainstream
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