Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ziviler Widerstand: Klimaaktivismus versus Querdenken
> Das Wohl aller ist entscheidend für den zivilen Widerstand. Der Schaden
> muss überschaubar bleiben und Erfolg nicht völlig unwahrscheinlich.
Bild: Die Gruppe „Letzte Generation“ meidet die Konfrontation mit dem Recht…
Die Organisation [1][„Letzte Generation“] fordert den demokratischen
Rechtsstaat heraus, indem sie Autobahnen sperrt, um auf Klimaschutz und
Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen. Gegen „normale“
Protestaktionen spricht, wie Mitglied [2][Tobias März in der taz] erklärt:
„Damit bekommen wir nicht die nötige Aufmerksamkeit.“
Die Reaktionen sind vielfältig. Justizminister [3][Marco Buschmann (FDP)
schrieb bei Twitter]: „Ziviler Ungehorsam ist im deutschen Recht weder
Rechtfertigungs- noch Entschuldigungsgrund. Unangemeldete Demos auf
Autobahnen sind und bleiben rechtswidrig.“
Was ist „ziviler Ungehorsam“ genau und wie weit ist er zu rechtfertigen? In
der Philosophie wird spätestens seit der Zeit von John Locke (1632–1704)
darüber nachgedacht. Locke war der Meinung, ungerechter und ungesetzlicher
Gewalt dürfe man mit Gewalt begegnen. Aber ungesetzlich ist die Gewalt
durch unseren Rechtsstaat nicht. Lockes Kriterium verweist auf den Konflikt
Bürger versus Unrechtsstaat, also auf die Rechtfertigung von Bürgerkrieg
und Revolution.
Das ist eine neue Frage, die sich etwa in Belarus stellt. Locke bringt uns
aber auch bei der Frage nach gerechtfertigtem zivilem Ungehorsam voran,
indem er zwei Punkte formuliert: Erstens wenn ich zur Vermeidung der
Ungerechtigkeit das Gesetz nicht anrufen konnte, bin ich zum Widerstand
ermächtigt. Zudem erkennt Locke zweitens, dass ziviler Ungehorsam als Motor
für den Wandel des Rechts unerlässlich ist.
## Ungehorsam als Motor für Wandel
Nur so kann das Recht sich gesellschaftlichen Erfordernissen anpassen,
indem es durch Aktionen, die seine Grenzen, aber nicht seinen Geist
verletzen, herausgefordert wird. Also ist ziviler Ungehorsam per se
gesetzeswidrig, aber erwünscht, anders als Buschmann meint. Damit wissen
wir schon mal: Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich von Revolution. Es
müssen ihm, pragmatisch abgewandelt, mindestens andere wirkungslose legale
Versuche vorausgegangen sein, um das Recht fortzuentwickeln.
Ein zusätzliches Element, das in sehr vielen Definitionen des Begriffs eine
Rolle spielt, ist das Folgende: Es muss eine Situation gegeben sein, in der
der Rechtsstaat ein grundlegendes moralisches Prinzip wie die Wahrung der
Menschenrechte, der Gerechtigkeit oder des Allgemeinwohls verletzt. Das
wiederherzustellen, ist das Motiv des gerechtfertigten zivilen Ungehorsams.
Auch [4][Hannah Arendt] betonte, dass gerechtfertigter ziviler Ungehorsam
nicht Ausnahmen aus den Gesetzen für Einzelne (zum Beispiel Kriminelle)
bezweckt, sondern auf das Wohl aller zielt und deshalb auch öffentlich
stattfindet. Die Aktionen der „Ungehorsamen“ sollen die Öffentlichkeit
aufrütteln, werden nicht verheimlicht und sind prinzipiell von jedermann
und nicht nur von einigen Cliquen ausführbar.
Damit wissen wir erneut mehr. Elementar ist, dass hier Stoff ist, um
Klimaaktivismus von einigen Arten des [5][Querdenkens] und [6][Trumpismus]
zu unterscheiden. Die Bewegungen haben vieles gemeinsam, etwa die
Öffentlichkeit, sodass der Verdacht aufkommt, beides könnte
gerechtfertigter ziviler Ungehorsam sein: Wenn Klimaaktivisten Recht
verletzen dürfen, dürfen Querdenker das auch?
## Querdenker zielen nicht auf das Allgemeinwohl
Nein, denn weder Rechtsradikalismus noch Trumpismus haben einen
glaubwürdigen Bezug auf das Allgemeinwohl beziehungsweise die Menge des
Wohlergehens in der Gesellschaft. Es geht ihnen darum, eine kleine
Teilgruppe gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft zu bevorteilen und
damit andere Teilgruppen zu benachteiligen. So gehen Proteste auf das Konto
der Teile der Gesellschaft, die sich nicht gegen Ansteckung durch das
Coronavirus schützen können.
Auch wenn die Rhetorik solcher Gruppen auf „Grundrechten für alle“ basiert
und daher einen Allgemeinwohlbezug vortäuscht, muss man sich immer fragen:
Wer wird durch die Proteste in welchem Maße geschädigt? Durch Klimaschutz
niemand, durch ein Querdenken, das bewirkt, dass Schutzmaßnahmen vorzeitig
enden, einige erheblich. Gleiches gilt für den Trumpismus und die AfD.
Es gilt, das Wohl einer kleinen Teilgruppe gegen andere Teilgruppen
auszuspielen: „America first“, gemeint ist damit nicht die ganze Nation,
sondern das „weiße“ Amerika. Zwar gibt es auch legitimen zivilen Ungehorsam
von Minderheiten, die auf gleiche Anerkennung zielen, man denke nur an die
Behindertenbewegung. Aber bei diesen Bewegungen gilt: Wenn ihre Ziele
erreicht sind, wird deshalb niemand nennenswert schlechter gestellt sein.
Wie steht es nun mit dem etwa von dem amerikanischen Vordenker des
Liberalismus John Rawls beschworenen Kriterium, dass gerechtfertigter
ziviler Ungehorsam gewaltfrei sein muss und niemandem schaden darf? Gewalt
ist durch die WHO definiert als „schädigende Ausübung von Macht“. Gewalt
und Schädigung hängen also zusammen. Kein Protest ist ohne Schädigung
möglich. Schaden entsteht immer, auch durch Worte, die psychische Lasten
für andere bedeuten. Zudem ist Gewalt für manche Proteste unumgänglich.
## Schaden entsteht immer
[7][Hungerstreiks] beinhalten Gewalt gegen sich selbst. „Containern“, also
die Rettung von Lebensmitteln, die in Müllcontainern von
Lebensmittelhändlern entsorgt werden, funktioniert nur, wenn man auf das
Gelände der Händler vordringt und damit Hausfriedensbruch begeht. Dabei
muss man sich im Normalfall gewaltsam Zutritt verschaffen, indem man
Schlösser aufbricht. Nicht genehmigte Demonstrationen schaden dem Staat,
denn sie zwingen ihn, sie zu beobachten oder aufzulösen.
Polizeikontingente müssen bereitstehen. Auch das ist eine Form von
Schädigung, denn man zwingt den Staat dazu, Kosten zu tragen, die zulasten
von irgendjemand oder irgendetwas gehen. Fordert man also völlige
Gewaltfreiheit von „Ungehorsamen“, fordert man eigentlich etwas genau
genommen Unmögliches. Besser sollte man fragen, welche Form und welches Maß
von Gewalt und Schaden zulässig sind.
Schnell kommt einem die gängige Formel „Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt
gegen Personen nein“ in den Sinn, um hier zu differenzieren. Auch dieser
Slogan ist jedoch nicht zu Ende gedacht. Gewalt gegen Sachen verursacht
Kosten und Kosten müssen vom Staat oder vom Lebensmittelhändler oder von
wem auch immer kompensiert werden. Wenn Millionenschäden im
Lebensmittelhandel entstehen, wird dieser auch über Entlassung von Personal
nachdenken.
Gewalt gegen Sachen und Schädigung von Personen hängen zusammen. Daher kann
man nur fordern, dass Gewalt in ihrem Ausmaß minimiert wird: so wenig
Gewalt wie möglich und keine Gewalt, die über eine gewisse Schadenssumme
hinausgeht. Die tolerierbare Schadenssumme ist natürlich relativ zum
Vermögen des Geschädigten. Schlösser bei Lebensmittelhändlern aufzubrechen,
schädigt diese nicht nennenswert.
Polizeikontingente für Demonstrationen bereitzustellen, schädigt den Staat
nicht nennenswert. Millionenschäden für einen Lebensmittelhändler bedeuten
jedoch schon eine andere Dimension. Bleibt ein letztes Kriterium, um die
Aktionen der „Letzten Generation“ zu bewerten. Ziviler Ungehorsam ist nur
gerechtfertigt, wenn sein Erfolg nicht völlig unwahrscheinlich ist. Er
kostet jedenfalls viel, sei es finanziell oder an Verunsicherung des
Rechtsbewusstseins.
Deshalb muss er auch wahrscheinlich etwas bringen. Eine von manchen
Aktivisten erwogene Revolution gegen unseren Staat, die ihn durch eine
„Ökodiktatur“ ersetzen sollte, hätte keine Chance auf Erfolg. Es droht
ineffektiver und zudem blutiger Widerstand wie zu Zeiten der
Baader-Meinhof-Bande. Allein deshalb wäre der Versuch, eine Ökodiktatur zu
errichten, nicht zu rechtfertigen.
Nun können wir die fraglichen Aktionen der Klimaaktivisten bewerten.
Grundsätzlich handelt es sich dann um gerechtfertigten zivilen Ungehorsam,
der auch Gesetze bricht, wenn er (anders als bei gerechtfertigten
Revolutionen) gewaltarm ist. Er muss öffentlich geschehen, sein Ziel muss
nachvollziehbar im Sinne des Wohls aller Menschen sein, ihm müssen
rechtlich zulässige Aktionen erfolglos vorausgegangen sein und sein Ziel
darf nicht wahrscheinlich unerreichbar sein.
Wenn man all diese Kriterien anwendet, sind gewaltarme Autobahnsperrungen
prinzipiell zu rechtfertigen. Gewaltarm sind sie insbesondere, wenn sie zum
Beispiel Rettungsgassen für Notfälle garantieren und sonstige nennenswerte
Schädigungen von Personen ausschließen. Ob das gegeben ist, darüber
streiten Veranstalter und Kritiker. Außerdem sind Schäden von betroffenen
Autofahrern zwar verglichen mit dem Ziel „Klimaschutz“ im Einzelnen
unbedeutend, sie häufen sich aber durch wiederholte Aktionen an.
Irgendwann wird die ohnehin eingeschränkte Erfolgswahrscheinlichkeit des
Protests durch die vielen kleinen Schäden überwogen, die er verursacht.
Einzelne gewaltarme Sperrungen halte ich also für zu rechtfertigen,
gehäufte Sperrungen, wie wir sie derzeit erleben, verursachen zu viele
Schäden. Sie erschöpfen das Medieninteresse und haben deshalb immer
geringere Chancen, etwas zu verändern.
Aufseiten des Staates würde man erwarten, dass er bei gerechtfertigtem
zivilem Ungehorsam seine Gesetze ständig überprüft. Und dass er sich beim
Strafmaß für die Ahndung zurückhält. Der Umgang mit gerechtfertigtem
zivilem Ungehorsam ist der Lackmustest für gereifte Demokratien und muss
als notwendiges Element ihrer politischen Kultur angesehen werden.
24 Apr 2022
## LINKS
[1] /Proteste-der-Letzten-Generation/!5831060
[2] /Klimaaktivisten-ueber-Autobahnblockaden/!5835112
[3] https://twitter.com/marcobuschmann/status/1491509094250864645?lang=de
[4] https://www.youtube.com/watch?v=d7AnpetmA0c&t=129s
[5] /Nachrichten-zur-Coronakrise/!5838066
[6] /Was-von-Trump-bleibt/!5723946
[7] /Klimaaktivist-ueber-Zukunftsangst/!5824373
## AUTOREN
Bernward Gesang
## TAGS
Schwerpunkt Fridays For Future
GNS
Widerstand
Letzte Generation
Impfung
Schwerpunkt Klimawandel
"Querdenken"-Bewegung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Gesetz gegen Lebensmittelverschwendung: Madrid setzt auf Doggy-Bags
Spanien will das Wegwerfen von Lebensmitteln per Gesetz stoppen. Dieses
nimmt sowohl Handel als auch Gastwirte und Firmen in die Pflicht.
Querdenker an der Uni Bielefeld: Der abgedriftete Professor
Martin Schwab ist ein beliebter Juraprofessor – und tritt in NRW für „Die
Basis“ an. Die Uni fragt sich: Wie umgehen mit dem Querdenker-Prof?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.