# taz.de -- Nachruf auf Jürgen Reents: Ein bescheidener Kämpfer | |
> Jürgen Reents war Shootingstar der Kommunisten und Chefredakteur des ND. | |
> Er fand erst Mao, später die Grünen gut. Ein persönlicher Nachruf. | |
Bild: Er hatte Menschen, die ihn lieben: Politiker und Journalist Jürgen Reent… | |
Dass er keine Lust mehr habe, hatte er anfangs nicht so ausdrücklich | |
geäußert. Vor einem halben Jahr, da war Jürgen gerade in sein letztes | |
Zimmer umgezogen, äußerte er erstmals, nicht mehr leben zu wollen. | |
Er lag in seinem Bett, gerade war die Physiotherapeutin gegangen, die seine | |
Hände und Füße massierte, damit diese warm bleiben. Er selbst konnte dies | |
schon lange nicht mehr, vor gut vier Jahren begann diese tückische | |
Erkrankung buchstäblich von ihm Besitz zu ergreifen. [1][ALS] ist für sie | |
das Kurzwort, das besagt, der von ihm befallene Mensch muss hinnehmen, dass | |
die Nerven absterben, das Gehirn mag Kommandos geben, aber der Körper | |
gehorcht nicht mehr – und die Medizin weiß faktisch nichts über diese | |
Krankheit, Heilung ausgeschlossen. | |
Jürgen sagte also: Die Ärzte sagen, am besten wäre, ich bekäme eine | |
Lungenentzündung, dann ginge alles schnell – aber ich bekomme einfach keine | |
Lungenentzündung. | |
Das, was dieser Mann, dieser neu gewonnene Freund und alte Genosse, hier | |
sagt, womit er zitiert, ist nicht mit Zitate kenntlich machenden | |
Anführungszeichen markiert, er kann seine Sätze nicht mehr autorisieren, | |
denn er lebt nicht mehr. Am Donnerstag voriger Woche, schrieb Astrid, seine | |
Liebste, an Freunde und Freundinnen, habe in Berlin endlich mal wieder die | |
Sonne die Wolken überwunden, sie strahlte, und das sei in gewisser Weise | |
das Zeichen des Loslassens für ihn gewesen, dass es lichter wurde, und nun | |
sei er, Jürgen, ihr Liebster, wie erlöst gegangen, sein Leiden habe ein | |
Ende gefunden. | |
## Mitgliedschaft im KB | |
Wenige Wochen zuvor war das Zimmer endlich zu seinem geworden. An den | |
Wänden hingen Poster, auf einem eine Pariser Caféhausszene, ein ikonisches | |
Bild aus einer Zeit, in der das Rumhängen in einem Lokal in der | |
französischen Hauptstadt für ein gewisses Flair stand, für | |
Weltangeschlossenheit, Coolness und das politische selbstverständliche | |
Credo von „Time Is On My Side“. Im Regal Ernst Blochs „Das Prinzip | |
Hoffnung“, wenige andere Bücher und ein Briefumschlag. Er bat mich, aus ihm | |
die Karte herauszunehmen, auf ihr zu sehen ein Foto einer älteren Frau und | |
ein paar Zeilen. Meine Mutter, sagt er, als sie mich für ein Wochenende in | |
Bonn besuchte, man erkennt auf dem Bild eine gemütliche Weinschänke. | |
Jürgen fragt, ob ich ihm die Zeilen vorlesen könne. Eine schöne Handschrift | |
mit typisch mütterlichen Worten, aus denen zwischen den schlichten Zeilen | |
vor allem Verblüffung hervorzuschimmern scheint, dass der Sohn ihr wirklich | |
diese Zeit geschenkt hat – er war ja beschäftigt, saß damals für die | |
[2][Grünen im Bundestag], war einer der Wichtigen in dieser Partei, ein | |
ehemaliger Kommunist, jedenfalls ein Linker. Jürgen sagt: Lieben Mütter | |
nicht immer ihre Kinder, immer? Mir schien, als würde er gleich weinen. | |
Nein, Jürgen, das tun sie nicht, aber: War deine Mutter nicht vor allem | |
stolz auf dich? Ich weiß nicht, erwidert er, Stolz … das ist so ein großes | |
Wort. Aber ja, vielleicht. | |
Wir kennen uns seit langem, seit 1979 genauer gesagt. Jürgen Reents war der | |
öffentliche Kopf des Kommunistischen Bundes, der tonangebenden K-Gruppe in | |
Norddeutschland, irgendwie, so hieß es, chinesisch orientiert, jedenfalls | |
nicht, wie die DKP, DDR-hörig. Er schrieb Flugblätter, er hatte das beste | |
Händchen im Verschriftlichen von Texten für den Arbeiterkampf, er war, wie | |
ein anderer alter Genosse sagt, „Willis Schreibmaschine“: allzeit bereit, | |
agitatorisch zu intervenieren für einen der beiden Chefs des KB, Klaus | |
„Willi“ Goltermann. | |
Wenig später war Jürgen Reents Teil der frisch gegründeten Grünen, der KB | |
blieb als ein ideologisch erlöschendes Trümmerstück der radikaleren Linken | |
der Siebziger zurück, gemeinsam waren wir Teil der linken Zeitschrift | |
Moderne Zeiten, Ralf Fücks war mit dabei, der spätere Vordenker der | |
[3][Heinrich-Böll-Stiftung], Frieder Otto Wolf, Philosoph – und ich fragte | |
Jürgen Reents, ob er alte Exemplare dieser Zeitschrift noch habe, darin sei | |
ein interessantes Gespräch mit dem damaligen Außenseiter der Grünen, | |
Winfried Kretschmann, zu finden. Er antwortete mittels Facebook, er könne | |
nicht mehr rasch antworten, er sei erkrankt, ziehe sich zurück. Einen | |
Besuch bei ihm verabreden wir. | |
Er stand in der Tür, die Arme hingen ihm herab, er konnte sie nicht mehr | |
steuern. Ein Versprechen musste ich abgeben. Kein Mitleid, kein | |
sentimentaler Ton. Im schönen Wohnzimmer läuft der Fernseher, Astrid macht | |
Kaffee, etwas Kuchen, Jürgen kann durch einen gläsernen Halm trinken. | |
Können wir über das Früher reden? Gern, aber was weiß ich, sagt er. Nicht | |
mehr ist er Chefredakteur vom [4][Neuen Deutschland], seine Kontakte in die | |
Partei werden seltener, so ist das Altwerden, sagt er, man verliert für | |
andere an Wichtigkeit. | |
## Linksradikale WG | |
Über sehr viele Stunden, anfangs in der Wohnung am Grunewald, später im | |
Pflegeheim, reden wir. So, als sei es ganz normal, dass er sich immer | |
weniger rühren kann, am Ende im Bett liegt. Wäre er, wäre ich religiös, | |
hätten wir gesagt: Gott sei Dank gibt es Siri und Alexa, mit den digitalen | |
Werkzeugen kann er Programme umschalten, den Ton des Radios lauter oder | |
leiser stellen, auch Termine abfragen, das Sprechen wird leiser, | |
kraftärmer, aber es geht gut. Alexa, was steht Donnerstag in meinem | |
Kalender? Alexa: Nichts. | |
So erzählt er, wie immer, niemals hastig, immer eine Sekunde überlegend. | |
Zur Welt in Bremerhaven, gute Eltern, kleinbürgerlicher Haushalt, | |
sozialliberal gesinnt, kein konservatives Umfeld, er, der erste in der | |
Familie mit Abitur, als Schülervertreter viel Ärger, erste | |
Aufrührerischkeiten, Beitritt zu den Jungen Demokraten, der liberalen | |
Nachwuchsorganisation, weil dieser Verein an der Seite der späteren | |
Achtundsechziger stand, gute Lehrer und Lehrerinnen, ein starkes Talent | |
fürs Mathematische und Naturwissenschaftliche. Nach dem Abitur Umzug nach | |
Hamburg, das Studium begonnen, aber dann in einer linksradikalen WG am | |
Hamburger Feenteich, allerbeste großbürgerliche Lage, begann sein | |
politisches Leben. | |
Auf den Mitschnitten unserer Treffen hört man, dass Jürgen Reents der | |
freundlichste Mensch war, der sich denken lässt. Wir gehen im Laufe der | |
Monate viele Stationen durch – aber über niemanden spricht er Hässliches, | |
Gemeines, Abträgliches. Und das trotz härtester Auseinandersetzung in der | |
Linken. | |
Beim KB waren wir nicht gerade die Theoriestärksten, erzählt er. Eher | |
Äktschn, gegen Faschisierung von Staat und Gesellschaft, wie es hieß, | |
Mobilisierung in Sachen Kampf gegen AKWs, volle Pulle gegen Brokdorf, | |
Grohnde und Gorleben, aber nie Harakiri. | |
## Bis zum Schluss Sozialist | |
Jürgen, warum haben wir diesen ideologischen Kram geglaubt? Die | |
Bundesrepublik war doch weitflächig dabei, sich zu liberalisieren? Und | |
weshalb hast du das Studium abgebrochen, war dir nie klar, du warst Teil | |
der wachsenden demokratischen Elite des Landes, war nicht noch klarer, dass | |
das Kommunistische eine Kuriosität bleiben würde, erfahren von den echt | |
Betroffenen als Schrecken? Warum diese Siebzigerjahrespielchen, die Kämpfe | |
der Weimarer Republik nachzustellen? Ich weiß es nicht, erwidert er, es ist | |
so lange her, ich habe mir nie so viel Gedanken darum gemacht, ich hing da | |
mit drin, und das war mir immer auch plausibel. | |
Was habt ihr euch denn unter China und Mao vorgestellt? Er war mal, sagt | |
er, in den frühen Siebzigern auf einer Ausstellung in den Kölner | |
Messehallen gewesen, die Volksrepublik präsentierte sich in Bildern | |
jubelndsten Einvernehmens. Jürgen sagt: Ich ging da durch und dachte mir | |
nichts. Nur, dass ich die Bilder stramm stehender Milizionäre und Soldaten | |
abstoßend fand, Militärisches stieß mich immer ab. | |
Wir haben viel geredet, über seine Liebe zu Boulespiel, das Pastis-Trinken, | |
die Reisen in seine Sehnsuchtsländer Italien und Frankreich, auch über die | |
Beatles, die Stones. Er fragte mich, was ich an Abba gut finde und an | |
Madonna und am Eurovision Song Contest – nicht exotisierend, sondern | |
interessiert. Bemerkungen, die aus seinem Fundus grundsätzlicher | |
Bescheidenheit schöpften, etwa, dass es gar nicht nötig sei, mich auf den | |
weiten Weg zu ihm machen. | |
Aber, Jürgen, mal zum Schluss, das mit dem Sozialismus ist doch Quatsch, | |
oder? Nein, sagt er, da werde ich dir niemals zustimmen, selbst wenn ich | |
möchte, ich würde mein ganzes Leben verraten. | |
Dass er kurz nach dem Ende der DDR in die PDS eintrat, für Gregor Gysi | |
arbeitete, später für das Neue Deutschland den Chef machte und der Klügste | |
aus dem Westen war, den die SED-Nachfolger*innen haben von dort shanghaien | |
können, lässt ihn trotzdem sagen: Ich bin emotional immer stärker den | |
Grünen verwandt geblieben, das war mein Projekt. | |
Er ist gegangen, er war mir wichtig geworden. Man musste ihm wünschen, | |
gehen zu dürfen. Er hatte Menschen, die ihn lieben. Und das ist nur | |
gerecht. | |
15 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.dgm.org/muskelerkrankungen/amyotrophe-lateralsklerose-als | |
[2] https://www.gruene-bundestag.de/ | |
[3] https://www.boell.de/de | |
[4] https://www.nd-aktuell.de/ | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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