# taz.de -- Übergriffe gegen flüchtende Frauen: Zwischen Panikmache und Gefahr | |
> Viele warnen Frauen aus der Ukraine vor sexualisierter Gewalt. Fälle gibt | |
> es, aber auch eine Diskrepanz zwischen Horrormeldungen und Datenlage. | |
Bild: Wie groß ist die Gefahr? Flüchtende kommen am Berliner Hauptbahnhof an | |
Eine Woche nachdem die [1][ersten russischen Bomben auf Kiew] gefallen | |
sind, beschwert sich ein Mann im Untergeschoss des Berliner Hauptbahnhofs: | |
„Ich stehe jetzt seit zwei Stunden hier und keiner will mitkommen.“ Ein | |
Pappschild baumelt um seinen Hals. Darauf steht: 1 Zimmer, 2 Personen, | |
Englisch/Russisch. Doch jedes Mal, wenn die Helferin mit der gelben | |
Warnweste vor das Absperrband tritt, gleitet ihr Blick über den | |
alleinstehenden Mann hinweg. Durch ein Megafon ruft sie: „Zwei Frauen, ein | |
Kind, ein paar Nächte!“ Der Mann meldet sich ein letztes Mal. Wieder kommt | |
niemand mit zu ihm. Frustriert geht er. | |
Zu diesem Zeitpunkt kursieren bereits online Warnungen, alleinstehende | |
Männer würden mit zwielichtigen Angeboten am Hauptbahnhof rumlungern. Ein | |
Post auf Instagram zeigt einen Mann Mitte 30, blonder Bart, randlose | |
Brille, Jeans und Sportjacke. Darüber wurde ein Text gelegt: „Wir haben | |
gerade gesehen, wie dieser Mann sehr aggressiv versuchte, eine 14-Jährige | |
und ihre Freundin zu überreden mitzukommen, bis wir eingegriffen haben.“ | |
Der Post wird so oft geteilt, dass sein Ursprung in einer endlosen Kette | |
aus Reposts versandet. Wo und wann sich dieser Vorfall ereignet haben soll | |
und wer ihn ursprünglich beobachtet haben will, geht aus dem Post nicht | |
hervor. Am Tag darauf [2][warnt die Bundespolizei] vor unseriösen Angeboten | |
insbesondere alter Männer am Berliner Hauptbahnhof. | |
Die Auffangstruktur wird zu diesem Zeitpunkt fast ausschließlich | |
ehrenamtlich gestemmt. Freiwillige Helfer:innen koordinieren die | |
Bettenbörse, vermitteln Shuttles und Privatunterkünfte. Mit der sogenannten | |
Welcome Hall wird diese Struktur am 8. März abgelöst. Vor dem Berliner | |
Hauptbahnhof steht jetzt ein großes weißes Zelt, organisiert von der | |
Stadtmission. Unter Wachschutz können sich [3][bis zu 1.000 Ankommende | |
täglich hier aufhalten], schlafen, sich sortieren. | |
Private Schlafplätze können nur noch über Plattformen von | |
Nichtregierungsorganisationen angeboten werden. Dort werden die | |
Anbieter:innen registriert und ihre Identität erfasst. Die Warnungen | |
vor Menschenhandel und Zwangsprostitution reißen trotzdem nicht ab. In der | |
ersten Aprilwoche titelte eine großer öffentlich-rechtlicher Sender: | |
„Ukrainischen Frauen droht sexueller Missbrauch und Menschenhandel“. | |
[4][Eine große Tageszeitung]: „Europarat: Menschenhändler bedrohen | |
Ukraine-Flüchtlinge“. Konkrete Fälle liegen den Medienberichten nicht | |
zugrunde. | |
## Sicherheitsbehörden nehmen Gefahr ernst | |
309.868 Menschen sind seit dem Angriff auf die Ukraine vor mehr als einem | |
Monat bis Mitte vergangener Woche nach Deutschland geflohen. Diese Zahl | |
wird in einer internen Lagedarstellung des Innenministeriums genannt, die | |
der taz vorliegt. Aus dem Dokument geht auch hervor, dass die | |
Sicherheitsbehörden die potenzielle Gefahr von Menschenhandel beobachten | |
und ernst nehmen. Länder- und Bundespolizeien kooperierten eng, außerdem | |
würden Ankommende wie Helfende sensibilisiert und bei Verdachtsfällen | |
Platzverweise ausgesprochen, heißt es darin. Man habe allerdings noch keine | |
Erkenntnisse zu Menschenhandelsdelikten oder ausbeuterischen Handlungen. | |
Den Sicherheitsbehörden in Deutschland ist aktuell also kein Fall | |
organisierter Kriminalität bekannt, bei dem geflüchtete Frauen oder Kinder | |
aus der Ukraine im Kontext der Flucht vor dem aktuellen Krieg verschleppt, | |
genötigt oder missbraucht wurden. Sexualisierte Gewalt und Übergriffe gibt | |
es aber trotzdem. In einem Schreiben des Innenministeriums vom 5. April, | |
das der taz vorliegt, heißt es: „Es wurden erste Straftaten unter | |
Ausnutzung der vulnerablen Situation gegen die sexuelle Selbstbestimmung | |
zum Nachteil ukrainischer Vertriebener festgestellt.“ | |
## Acht Vergewaltigungen gemeldet | |
Eine weitere Quelle konkretisiert der taz gegenüber: Bis Anfang April seien | |
den Sicherheitsbehörden acht Vergewaltigungen gemeldet worden und es habe | |
15 Feststellungen mit Sexualdelikten vorbestrafter Männer gegeben, die am | |
Hauptbahnhof anwesend gewesen sein sollen. Hinweise von NGOs oder | |
Helfer:innen seien bisher ins Leere gelaufen. | |
Nichtregierungsorganisationen warnen weiterhin. Auf einem Flyer, der unter | |
anderem am polnischen Grenzpunkt Medyka verteilt wird, steht: „Liebe Frau | |
aus der Ukraine, willkommen in Polen! Du kannst dich auf unsere Hilfe in | |
dieser schweren Zeit verlassen.“ | |
Dann etwas weniger fett gedruckt darunter: „Aber bitte, sei vorsichtig! Es | |
gibt Menschen, die von deinem Leid profitieren wollen und dich statt an | |
einen sicheren Schlafplatz an einen Ort bringen, der dir schaden wird. Nimm | |
keine Fahrangebote von unautorisierten Fahrern an. Sie könnten | |
Menschenhändler sein, die dich ausbeuten wollen.“ Darunter befinden sich | |
die Telefonnummer der Polizei sowie die der internationalen Beratungsstelle | |
gegen sexuelle Ausbeutung und Menschenhandel „La Strada“. | |
## Zu früh für Daten | |
Professor Zbigniew Lasocik [5][hat dieses Flugblatt, das in weiteren | |
Sprachen auch schon in der Ukraine verteilt wird, mitentwickelt]. Er | |
arbeitet am „Human Trafficking Studies Center“, einem an die | |
Politikwissenschaften angegliederten Forschungsprojekt der Universität | |
Warschau. Auch den polnischen Sicherheitsbehörden lägen keine Fälle | |
organisierter Kriminalität in Bezug auf Menschenhandel geflüchteter | |
ukrainischer Personen vor, sagt er im Gespräch mit der taz. | |
Aus seiner jahrelangen Forschung zu Menschenhandel und Zwangsprostitution | |
schließt er in Bezug auf die Ukraine aber: „Es ist noch viel zu früh dafür. | |
Während der Fluchtbewegung aus Syrien im Sommer 2015 hat man erst Monate, | |
teils Jahre später Strukturen von Menschenhandel aufdecken können.“ Er ist | |
sich sicher, dass auch dieser Krieg von organisierter Kriminalität an den | |
Grenzen begleitet wird, „alles andere wäre wider die Geschichte jedes | |
Krieges“. Gleichzeitig sagt er, dass die Aufklärung über potenzielle | |
Gefahren der Flucht sogar schon vor der Grenze, in den Erstaufnahmestellen | |
in Polen und in anderen Nachbarstaaten der Ukraine sehr gut funktioniere. | |
## Ausbeutung im Niedriglohnsektor | |
Dem Professor sei nur ein Fall durch eine Hilfsorganisation zugetragen | |
worden. Mit diesem Fall einer Frau, die gegen ihren Willen zu sexuellen | |
Handlungen genötigt worden sein soll, ist es wie mit vielen Erzählungen, | |
die an der Grenze kursieren: Professor Lasocik kann den Fall nicht | |
überprüfen, die Frau wolle aus Scham nicht mit ihm reden und habe aus | |
diesem Grund auch noch keinen Kontakt zur Polizei aufgenommen. Scham, die | |
Angst, als Opfer stigmatisiert zu werden, und der Zweifel an Behörden und | |
Justiz seien oft Gründe, weshalb potenzielle Spuren nicht verfolgt werden | |
könnten, sagt Lasocik. Er ist sich dennoch sicher: „Wo Krieg und Elend | |
herrscht, wird es immer Menschen geben, die sich daran bereichern.“ | |
Wie real die Gefahr von Ausbeutung geflüchteter Menschen ist, legte eine | |
Recherche des ARD-Politikmagazins „Panorama“ vergangene Woche offen: Der | |
Fleischkonzern Tönnies versuchte, ebenfalls mit Flyern, [6][den Ankommenden | |
unterirdische Arbeitsangebote schon an der polnisch-ukrainischen Grenze zu | |
machen]. Dass Ukrainer:innen im Niedriglohnsektor, insbesondere in der | |
Pflege, schon vor dem Krieg angeworben und ausgebeutet wurden, legten | |
zahlreiche Recherchen während der Coronapandemie offen. Die Gefahr, an der | |
Grenze in zwar legale, aber dennoch verheerend prekäre Arbeitsverhältnisse | |
zu rutschen, scheint aktuell akuter als die der Verschleppung durch | |
organisierte Menschenhändler. | |
## Diskrepanz zwischen Panikmache und Datenlage | |
Dennoch will das Bundeskriminalamt nach eigenen Angaben eine Sondereinheit | |
auf den Weg bringen, die sich ausschließlich mit der Gefahr der | |
organisierten sexuellen Ausbeutung von Geflüchteten aus der Ukraine | |
beschäftigt. Man wolle außerdem, so heißt es in einem internen Dokument, | |
„im Rahmen der diesjährigen DEU G7-Präsidentschaft (…) eine der Prioritä… | |
des BMI auf den Bereich der Menschenhandelsbekämpfung“ legen. | |
Obwohl die Diskrepanz zwischen Horrormeldungen, Warnungen und der | |
tatsächlichen Datenlage groß zu sein scheint – deutsche Behörden, | |
Wissenschaft und freiwillige Helfer:innen begegnen der Bedrohung | |
sexueller Ausbeutung mit Ernsthaftigkeit. Denn die Gefahr der | |
sexualisierten Gewalt, ob sie organisiert oder als Einzelfall innerhalb | |
privater Unterkünfte auftritt, bleibt ein Problem, das potenziell jede Frau | |
aus der Ukraine betreffen kann. | |
11 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Krieg-in-der-Ukraine/!5838917 | |
[2] https://www.tagesspiegel.de/berlin/verdacht-des-menschenhandels-in-berlin-p… | |
[3] https://www.morgenpost.de/berlin/article234765633/Welcome-Hall-Ein-Zelt-fue… | |
[4] https://www.berliner-zeitung.de/news/europarat-warnt-vor-menschenhandel-mit… | |
[5] https://wnpism.uw.edu.pl/wp-content/uploads/2019/08/CV-Zbigniew-Lasocik-EN.… | |
[6] https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/toennies-fluechtlinge-ukraine-10… | |
## AUTOREN | |
Eva Hoffmann | |
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