# taz.de -- Antiasiatischer Hass in den USA: Nicht mehr Opfer sein | |
> Antiasiatische Hassverbrechen sind in den USA um 361 Prozent gestiegen, | |
> besonders oft trifft es Frauen. Die asiatischstämmige Community wehrt | |
> sich. | |
Bild: Eine Demonstrantin auf einer Mahnwache gegen antiasiatischen Hass | |
Fast oberschenkelhoch stapeln sich die Blumensträuße um den Baum, viele | |
liegen an diesem Tag Anfang März schon sichtbar länger dort, sind | |
vertrocknet, andere noch frisch. Am Stamm klebt ein Foto einer jungen Frau | |
mit langem Haar, die mit breitem Lächeln in die Kamera strahlt. Und ein | |
Schild: „Antiasiatische Hassverbrechen sind um 361 Prozent gestiegen.“ | |
Der Baum steht an der Chrystie Street in Manhattans Chinatown, vor dem | |
früheren Wohnhaus der Frau auf dem Foto, Christina Yuna Lee. Von hier sind | |
gleich zwei Subway-Haltestellen in kürzester Zeit erreichbar – die U-Bahn | |
hatte die 35-Jährige in der Nacht zum 13. Februar aber trotzdem nicht | |
genommen, [1][wird berichtet]. Zu gefährlich. Es half nichts, ihr | |
mutmaßlicher Mörder folgte ihr ins Haus, sechs Treppenläufe hoch und | |
drängte sich in ihre Wohnung. So beschreibt der Bezirksstaatsanwalt von | |
Manhattan den Tatverlauf. | |
Christina Yuna Lee ist die zweite asiatischstämmige Amerikanerin innerhalb | |
weniger Wochen in New York City, die brutal ermordet wurde. Erst im Januar | |
hatte ein Mann die 40-jährige Michelle Alyssa Go in einer Haltestelle am | |
Times Square vor eine U-Bahn gestoßen. Der Mord an Go wird von der Polizei | |
nicht als „hate crime“ bezeichnet, also als politisch motiviertes, in | |
diesem Fall wohl rassistisches Verbrechen. Auch im Fall von Christina Yuna | |
Lee war das Motiv zunächst unklar. Doch reihen die Verbrechen sich ein in | |
eine Welle von antiasiatischer Gewalt, die viele hier verängstigt: | |
31. Dezember 2021: Der 61-jährige Yao Pan Ma stirbt nach Monaten im | |
Krankenhaus an seinen Verletzungen. [2][Ein Mann hatte ihn beim Sammeln von | |
Flaschen und Dosen in East Harlem im April von hinten angegriffen, so die | |
Staatsanwaltschaft.] 22. Februar 2022: Die 61-jährige Gui-Ying Ma ist tot. | |
Sie hatte drei Monate im Koma gelegen, nachdem sie in Queens im November | |
beim Gehwegfegen mit einem Stein attackiert worden war. 1. März 2022: Ein | |
junger Mann in Manhattan geht innerhalb von nur zwei Stunden auf sieben | |
Frauen los – alle mit asiatischem Hintergrund. 11. März 2022: Im New Yorker | |
Vorort Yonkers nennt ein Mann [3][nach Polizeiangaben] eine 67-Jährige | |
zunächst „Asian bitch“, dann schlägt er sie zu Boden, schlägt 125 Mal auf | |
sie ein, tritt und bespuckt sie. | |
## Tägliche Angriffe | |
„Diese Attacken finden jeden Tag statt, und wir sind alle unglaublich | |
besorgt“, sagt Jo-Ann Yoo, Geschäftsführerin der Asian American Federation | |
in New York. Es scheint kein Ende zu nehmen. Die Morde an Michelle Alyssa | |
Go und Christina Yuna Lee seien die prominenten, die großen Fälle, sagt | |
Yoo. Gleichzeitig gebe es etliche kleinere Erlebnisse antiasiatischen | |
Hasses – von körperlichen Einschüchterungsversuchen bis zu Beleidigungen. | |
Auch im Kontext der Pandemie, sagt Yoo. | |
„Ich kann nicht sagen, wie viele Freund:innen in der Subway Situationen | |
erlebt haben, in denen sie sich hinsetzen und jemand im Waggon zieht die | |
Maske herunter und flüstert: ‚Das ist alles eure Schuld‘.“ Samt folgender | |
rassistischer Schimpfworte. Nach Zahlen des New York Police Departments von | |
Anfang Dezember vergangenen Jahres [4][sind antiasiatische Hassverbrechen | |
im Jahr 2021 um 361 Prozent gestiegen, von 28 gemeldeten Fällen im Jahr | |
2020 zu 129 Fällen im Jahr 2021]. Das sind nur Fälle, von denen die Polizei | |
weiß. Yoo geht von einer Dunkelziffer aus, schon deshalb, weil teils | |
Sprachbarrieren bestehen. | |
## Frauen trifft es besonders | |
Landesweit sieht ein bisher unveröffentlichter Report des Center for the | |
Study of Hate and Extremism [5][Medienberichten zufolge] für das Jahr 2021 | |
einen Zuwachs von 339 Prozent bei anti-asiatischen Hassverbrechen. Demnach | |
sind die realen Fallzahlen bei anderen Bevölkerungsgruppen zwar höher – | |
doch der Anstieg ist enorm. | |
Frauen trifft es besonders hart: Die letzten Todesfälle in New York seien | |
eine weitere Erinnerung, dass die Gewaltwelle nicht nur generell die | |
asiatische Community treffe – sondern die Frauen aus der Gemeinschaft, | |
erklärte Sung Yeon Choimorrow vom National Asian Pacific American Women’s | |
Forum in einer Mitteilung. Erst vor etwa einem Jahr hatte ein Mann in der | |
Gegend von Atlanta acht Frauen in einem Massagesalon und Spa getötet – | |
sechs davon waren asiatischstämmig. | |
## „I am not your fetish“ | |
Eine große Mehrheit der befragten AAPI-Frauen (AAPI = Asian Americans and | |
Pacific Islanders) hat einer Umfrage der Organisation in den | |
vorausgegangenen 12 Monaten diskriminierende und/oder rassistische | |
Erfahrungen machen müssen; fast 40 Prozent der Frauen berichteten demnach | |
von sexueller Belästigung. „I am not your fetish.“ Auf Deutsch: „Ich bin | |
nicht dein Fetisch.“ Das steht auf der Gesichtsmaske einer der | |
Läufer:innen, die an diesem Minus-2-Grad Celsius-kalten Märzsonntag in | |
der Bleecker Street in Manhattan vor einem Boxclub warten. Etwa 50 bis 60 | |
Menschen, fast alle in Sportkleidung, stehen schwatzend in der | |
Frühjahrssonne auf dem Bürgersteig und auf der Straße, bis durch ein | |
Mikrofon eine laute Stimme erklingt. | |
Die Gruppe „Running to Protest“ startet heute von hier aus. Entstanden zur | |
Zeit der Black-Lives-Matter-Proteste des Jahres 2020, treffen sich die | |
Anhänger:innen zu Protestläufen zu Themen der sozialen Gerechtigkeit | |
und des Rassismus, sprechen etwa über die humanitäre Situation auf der | |
Gefängnisinsel Rikers oder fordern Gerechtigkeit für Breonna Taylor, die | |
26-jährig bei einer Razzia von der Polizei erschossen wurde. Heute ist das | |
Treffen den Rassismuserfahrungen der asiatisch-amerikanischen Community | |
gewidmet. Eine derjenigen, die vor dem Start des Jogging-Protests spricht, | |
ist Elizabeth Yan. Die 36-Jährige organisiert sich bei „Run for Chinatown“, | |
deren Gründer in den frühen Pandemiemonaten mit gesponserten Läufen | |
startete, um mit den gesammelten Spenden die Unternehmen der Nachbarschaft | |
zu unterstützen. | |
## Lauf über 35 Meilen | |
Damals litten die kleinen Restaurants in Chinatown früh unter | |
verschwindendem Fußgängerverkehr, erklärt Yan, als sie ein paar Tage vorher | |
auf der Terrasse eines Cafés in Chinatown sitzt. „Es gab keinen offiziellen | |
Lockdown, doch die Leute vermieden Chinatown – und sie vermieden es stärker | |
als andere Orte. Die Diskrepanz war so offensichtlich.“ In der Folge habe | |
es auch mehr Übergriffe gegeben. Yan lebt selbst in der Nachbarschaft. Sie | |
kannte Christina Yuna Lee nicht persönlich. Der mutmaßliche Täter hingegen, | |
ein obdachloser Mann, war kein unbekanntes Gesicht vor Ort: „Wir haben ihn | |
in der Gegend gesehen.“ [6][Er ist unter anderem wegen Mordes angeklagt], | |
wie die Staatsanwaltschaft bekanntgab. | |
Erst kürzlich sind Yan und ihre Mitstreiter:innen ganze 35 Meilen (56 | |
Kilometer) gelaufen, eine für jedes Lebensjahr von Christina Yuna Lee. Sie | |
umrundeten dabei den Sara D. Roosevelt Park gegenüber von Lees Apartment, | |
der schon vor deren Tod als unsichere Grünfläche bekannt war. „Und die | |
Nebenwirkung dessen war, dass wir den Ort für diese Zeit sicher gemacht | |
haben. Das zeigt, was Gemeinschaft kann“, erklärt Yan. | |
## „Immer im Kampfmodus“ | |
Doch auch der Lauf für Christina Yuna Lee blieb nicht ohne Ärgernis: | |
„Ironischerweise haben uns Leute angepöbelt, während wir liefen, und uns | |
Beschimpfungen zugebrüllt“, sagt Yan. Das sei nicht das erste Mal. Solche | |
Erlebnisse haben Nachwirkungen auf den Alltag der Betroffenen. „Wenn Sie | |
asiatisch-amerikanisch sind, speziell als Frau, müssen Sie immer mental, | |
physisch, emotional vorbereitet sein“, sagt Jo-Ann Yoo. Einmal habe ihr | |
jemand in der Nachbarschaft den Weg versperrt und sie körperlich | |
eingeschüchtert. Seitdem gehe sie nicht mehr auf dem Bürgersteig, sondern | |
nur noch auf der Straße. „Ihr Körper muss immer im Kampfmodus sein“, | |
erklärt sie. | |
„Ich kann mich nicht größer machen als ich bin“, sagt Yoo, die nur etwas | |
über 1,60 Meter misst. Doch versuche sie, soviel Platz einzunehmen wie | |
möglich, um nicht ängstlich auszusehen. Bis zur Rückkehr in die eigene | |
Wohnung sei sie in Alarmbereitschaft, erklärt sie. „Und das ist nicht nur | |
meine Geschichte – darüber spreche ich mit meinen Freund:innen die | |
gesamte Zeit, und das machen alle.“ Wenn sie nach Hause kämen, müssten sie | |
sich erst einmal hinsetzen, so anstrengend sei das permanente | |
Auf-der-Hut-Sein. „Es ist ein Zustand gesteigerter Angst, in dem wir jetzt | |
leben. Wir wollen nicht das nächste Opfer sein, wir wollen Menschen mit | |
bösen Absichten nicht die Möglichkeit geben, uns zu verletzen.“ | |
## Kaum Eingang in Statistiken | |
Die vielen kleinen und oft auch großen Erlebnisse von Belästigung finden | |
wohl kaum immer den Eingang in den verschiedenen Statistiken. Tatsächlich | |
sagt sogar Yoo: Die Website ihrer Organisation habe zwar auch ein solches | |
Berichterstattungs-Tool, sie selbst müsse ihre letzten Erfahrungen aber | |
noch eintragen. „Ich melde diese Vorfälle nicht“, sagt auch Elizabeth Yan | |
über Ereignisse wie die Pöbeleien beim Joggen. Viele in ihrem | |
Bekanntenkreis täten dies nicht, es sei eine weitere Belastung. | |
Doch in ihrer Ansprache vor dem Lauf vor dem Boxclub in der Bleecker Street | |
gibt Yan einen Einblick: Wie sie „chinese bitch“ genannt, angespuckt wurde, | |
welche Demütigungen auch ihre Familie ertragen musste. Auch in den | |
Vor-Pandemie-Zeiten habe es nicht weniger solcher Übertretungen gegeben. | |
Und auch die Vorgängergenerationen hätten diese erleben müssen, sagt Yan, | |
die mit den Tränen kämpft. „In den besten Fällen wurden meine Geschichten | |
geleugnet, abgetan, mir gesagt, ich sollte das Kompliment akzeptieren – im | |
schlimmsten Fall ging es weiter. Wenn dies täglich passiert, wird es zu | |
einem überwältigenden Gefühl der Verzweiflung.“ Verachtung macht auch vor | |
dem Gedenken keinen Halt: Zwei Wochen nach dem ersten Besuch vor dem | |
früheren Wohnhaus von Christina Yuna Lee weist ein Schild am Baum darauf | |
hin, dass der Erinnerungsort aus Blumen und Schildern mehrfach zerstört | |
worden sei – und dort nun auf Dauer ein Blumenbeet entstehen solle. | |
24 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://www.cnn.com/videos/us/2022/02/19/asian-americans-fear-christina-yun… | |
[2] https://www.manhattanda.org/d-a-bragg-announces-hate-crime-murder-charges-i… | |
[3] https://www.yonkersny.gov/home/showpublisheddocument/31612/6378285997921706… | |
[4] https://www.nbcnews.com/news/asian-america/nypd-reports-361-percent-increas… | |
[5] https://www.nbcnews.com/news/asian-america/anti-asian-hate-crimes-increased… | |
[6] https://www.manhattanda.org/d-a-bragg-assamad-nash-indicted-for-brutal-murd… | |
## AUTOREN | |
Eva Oer | |
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