# taz.de -- Flucht aus der Ukraine: Das Drehkreuz vor Berlin | |
> Tausende Geflüchtete aus der Ukraine durchqueren den Bahnhof von | |
> Frankfurt (Oder). Polizeikontrollen sollen mögliche „Trittbrettfahrer“ | |
> entlarven. | |
Bild: Schnell noch Proviant mitgeben: Helfer*innen auf dem Bahnhof von Frankfur… | |
BERLIN taz | Als der Zug aus Warschau in Frankfurt (Oder) einrollt, haben | |
sich Polizist*innen schon entlang des Bahnsteigs verteilt. Der Zug | |
hält, die Polizist*innen stellen sich an den Zugtüren auf. „Bitte | |
halten Sie Ihre Reisedokumente bereit, die Polizei wird diese nun | |
kontrollieren“, tönt es in mehreren Sprachen aus den Lautsprechern. | |
Durch die Fenster der Waggons sind Frauen, viele Kinder, vereinzelt Männer | |
zu sehen, manche mit Hunden oder Katzen in Trageboxen – Geflüchtete aus der | |
Ukraine. Die Abteile sind so voll, dass sich die Menschen stehend in den | |
Gängen drängen. Auf der anderen Bahnsteigseite steht schon ein Sonderzug | |
der Deutschen Bahn bereit, er fährt nach Berlin. Auch der Zug aus Warschau | |
wird bis Berlin weiterfahren – allerdings bittet die Polizei alle ohne | |
Sitzplatz, in den Sonderzug umzusteigen. | |
Ein weiterer Zug aus Warschau endet am Mittwochmittag in Frankfurt (Oder). | |
Jelena Seifert hat bereits eine Kiste mit Müsliriegeln, Bananen und | |
Saftpäckchen vorbereitet und bietet sie Aussteigenden an. Eine zweite | |
Helferin aus Frankfurts polnischer Nachbarstadt Słubice verteilt | |
Wasserflaschen. Sie seien seit dem frühen Morgen [1][am Bahnhof, um zu | |
helfen], sagt Seifert. | |
„Ich bin Russin, und ich habe selbst Verwandtschaft in der Ukraine“, sagt | |
sie. Ihr Cousin sei mit seiner Frau und den Kindern aus Kyjiw geflohen, an | |
der Grenze habe man ihn aber nicht durchgelassen, da sein | |
Schwerbehindertenausweis abgelaufen sei. „Seine Frau wollte nicht ohne ihn | |
weiter, jetzt sind sie alle wieder umgekehrt“, sagt Seifert. „Ich weiß | |
nicht, ob ich sie je wiedersehen werde“, sagt sie. Nun bietet sie Snacks | |
an, spricht Trost zu, muntert auf, übersetzt. | |
Der Bahnhof der brandenburgischen Grenzstadt zu Polen ist zu einer Art | |
Drehkreuz geworden. Vermutlich sind seit Kriegsbeginn um die 50.000 | |
Menschen über Frankfurt (Oder) nach Deutschland eingereist. Eine genaue | |
Zahl mag weder die Stadt noch die Bahn nennen, die Bundespolizei spricht | |
von einer „Größenordnung im mittleren fünfstelligen Bereich“. Laut Bahn | |
liegt die Kapazität der regulären Züge und der Sonderzüge aus Polen bei | |
etwa 7.500 Plätzen pro Tag. Man versuche, auch Busse oder Züge direkt nach | |
Köln, München oder Hamburg auf den Weg zu bringen, um Berlin zu entlasten. | |
Doch noch sei das eher die Ausnahme, sagt Bundespolizei-Sprecher Jens | |
Schobranski. | |
Denn die meisten Geflüchteten [2][wollen erst mal nach Berlin weiter]. So | |
auch die 17-jährige Julia S. Sie ist gemeinsam mit ihrer Schwägerin Alina | |
B. auf der Flucht, sie wollen bei einem Freund von Julias Bruder in | |
Berlin-Schöneberg unterkommen. | |
„Dieses Jahr habe ich die Schule abgeschlossen. In Kyjiw habe ich mich auf | |
Prüfungen für die Uni vorbereitet“, sagt S. „Jetzt weiß ich gar nichts | |
mehr: Bleibe ich Wochen oder Monate in Berlin? Soll ich mich weiter auf die | |
Uni vorbereiten? Oder besser direkt Deutsch lernen?“ Ihre Eltern hätten | |
gesundheitliche Probleme, daher seien sie nicht mit auf der Flucht. Die | |
17-Jährige streckt ihr Gesicht der Sonne entgegen und blinzelt. „Ich | |
versuche, nicht zu viel darüber nachzudenken und mich darauf zu freuen, | |
dass ich jetzt in Europa bin, ich wollte immer reisen“, sagt sie. „Mein | |
Vater würde nicht wollen, dass ich zu depressiv werde.“ | |
Nach [3][kurzem Blick auf ihre Papiere lässt die Polizei die meisten | |
Geflüchteten in den Sonderzug nach Berlin einsteigen]. Mit diesen | |
Kontrollen wolle man mögliche „Trittbrettfahrer“ herausfischen, sagt Jens | |
Schobranski. „Wir haben hier eine Binnengrenze, da führen wir | |
Fahndungsmaßnahmen durch“, sagt er. Nach der neuesten Verordnung dürften | |
alle direkt weiterreisen, die glaubhaft machen könnten, dass sie sich zum | |
Stichtag 24. Februar in der Ukraine aufgehalten haben. „Da brauchen wir | |
nicht unbedingt einen Pass als Nachweis. Die Sprache ist ein Indiz, teils | |
reichen uns auch Fotos auf dem Smartphone, die das belegen“, sagt er. | |
Wer den Ukrainebezug nicht nachweisen könne, komme in die | |
[4][Bearbeitungsstelle, die die Bundespolizei bereits im Herbst im Ortsteil | |
Markendorf im Südwesten von Frankfurt (Oder) eingerichtet] hat. Damals | |
wurden hier die Geflüchteten erfasst, die über Belarus nach Polen und dann | |
Deutschland geflohen waren. Sie würden dort „erkennungsdienstlich | |
behandelt“, gegebenenfalls würden auch „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ | |
geprüft, sagt Schobranski. Laut Schobranski betraf das bisher eine Anzahl | |
von Menschen im „höheren zweistelligen Bereich“. In die Ukraine würden sie | |
niemanden zurückschicken, wohl aber nach Polen, so das möglich sei. [5][Pro | |
Asyl und der Flüchtlingsrat Brandenburg hatten zuletzt rassistische | |
Polizeikontrollen kritisiert], die Bundespolizei wies die Vorwürfe zurück. | |
Auf dem Bahnhofsvorplatz kommen auch immer wieder voll besetzte Busse an, | |
woher und wie viele kann niemand genau sagen. Der Katastrophenschutz | |
versorgt die Ankömmlinge hier in zwei Zelten mit Essen, Getränken, | |
Hygieneprodukten und leitet sie von dort aus zu den Zügen weiter. | |
Einsatzleiter Michael Schillert hängt am Telefon. Er sucht nach einer | |
privaten Unterkunft für eine Familie mit Katzen und Chihuahua sowie für | |
zwei Frauen mit einem Boxer und einer Katze. Denn in die offiziellen | |
Unterkünfte dürfen Geflüchtete mit Tieren nicht hinein. „Die Tiere müssten | |
dann ins Tierheim“, erklärt Schillert, und dass sich die Besitzer*innen | |
nicht von ihnen trennen wollten. | |
Oben auf dem Bahnsteig läuft Jelena Seifert derweil am Zug entlang und | |
späht angestrengt durch die Fenster. Alle Plätze sind besetzt. „Da war | |
gerade noch eine Frau mit Baby“, sagt sie und schaut etwas ratlos. Sie hält | |
ein paar Windeln in der Hand. Die hätte sie gern noch mitgegeben. Doch die | |
Türen sind zu, der Sonderzug ruckelt und fährt langsam an. [6][Richtung | |
Berlin]. | |
11 Mar 2022 | |
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## AUTOREN | |
Uta Schleiermacher | |
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