# taz.de -- Krieg in der Ukraine: Uniting for Peace | |
> Mit Russlands Vetorecht im Sicherheitsrat schlägt die Stunde der | |
> Vollversammlung. Sie kann Schritte zur Wiederherstellung des Friedens | |
> empfehlen. | |
Bild: Sergiy Kyslytsya, der ukrainische Botschafter in New York, ringt um inter… | |
Zu früh wurden die Vereinten Nationen in dieser Krise als | |
[1][handlungsunfähig abgeschrieben]. Obwohl der Aggressor, ausgestattet mit | |
einem Vetorecht, selbst im Sicherheitsrat sitzt, laufen in den UN gerade | |
die Vorbereitungen an, ein anderes Organ, nämlich die Generalversammlung, | |
mit dem Krieg zu betrauen. Dabei bauen sie auf einen alten Mechanismus, der | |
es ermöglicht, in solchen Situationen an den Blockaden vorbei zu arbeiten: | |
Anstelle des gelähmten Sicherheitsrats tritt die Generalversammlung in | |
einer Notstandssitzung zusammen und kann Maßnahmen empfehlen, die dazu | |
dienen sollen, den internationalen Frieden wiederherzustellen. Das | |
entsprechende Vorgehen heißt [2][Uniting for Peace]. Die beiden notwendigen | |
Bedingungen hierfür scheinen erfüllt: zum einen ein handlungsunfähiger | |
Sicherheitsrat; zum anderen die Mehrheiten, derer es bedarf, um die | |
subsidiäre Befassung der Generalversammlung anzustoßen. | |
Am Freitag hat [3][Russland, als einziges Sicherheitsratsmitglied, gegen | |
die Resolution] gestimmt, die zuvor die USA und Albanien zusammen mit 80 | |
anderen UN-Mitgliedern eingebracht hatten. Sie verurteilt den russischen | |
Angriff und fordert zum sofortigen Rückzug der Streitkräfte aus der Ukraine | |
auf sowie zur Rücknahme der Anerkennung der separatistischen Regionen | |
Donezk und Luhansk. | |
Mit der Ablehnung dieses Entwurfs durch Russland und den Enthaltungen | |
Chinas und Indiens in der Sitzung vom 25. Februar 2022 liegt die erste | |
Voraussetzung für Uniting for Peace vor, denn der Sicherheitsrat kann in | |
dem Konflikt nicht aktiv werden. Die USA hatten bereits im Vorfeld | |
angekündigt, in diesem Fall die Generalversammlung einzuberufen. | |
## Wer stimmt dafür? | |
Die zweite Frage ist nun, ob mindestens 9 der 15 Sicherheitsratsmitglieder | |
mit Ja stimmen werden, um eine Notstandssitzung der Generalversammlung | |
einzuberufen. Dass [4][China] darunter sein könnte, ist unwahrscheinlich; | |
wie sich Indien, Brasilien und die Vereinigten Arabischen Emirate | |
positionieren werden, ist noch unklar. Sollten die nötigen Stimmen nicht | |
erreicht werden, kann die Generalversammlung immer noch auf eigene | |
Initiative zusammenkommen. Dass sich dafür eine Mehrheit ausspricht, | |
scheint plausibel. | |
Nimmt sich die Generalversammlung des Russland-Ukraine-Konflikts an, wird | |
es, im besten Fall, auf ein zweistufiges Verfahren hinauslaufen. Im ersten | |
Schritt würde sich die Generalversammlung an dem Resolutionsentwurf | |
orientieren, der bereits für den Sicherheitsrat erarbeitet wurde, und das | |
leisten, was eigentlich die wichtigste Kompetenz des Sicherheitsrats nach | |
Artikel 39 der UN-Charta ist: den Bruch des internationalen Friedens durch | |
eine Angriffshandlung feststellen und diesen verurteilen. | |
Damit einher wird die Aufforderung an Russland ergehen, die Kampfhandlungen | |
einzustellen und die Truppen aus der Ukraine abzuziehen. Die bisherigen | |
Uniting-for-Peace-Resolutionen sind – mit Ausnahme des Koreakriegs – über | |
diese Stufe kaum hinausgegangen. Dennoch könnte sich die Generalversammlung | |
im zweiten Schritt – in Folgeresolutionen – für all die Maßnahmen | |
aussprechen, die im Normalfall das Repertoire des Sicherheitsrats nach den | |
Charta-Kapiteln VI (friedliche Streitbeilegung) und VII (Zwangsmaßnahmen) | |
umfasst. | |
## Wirkungsvoll auch ohne Rechtsverbindlichkeit | |
Im Unterschied zu den rechtsverbindlichen Beschlüssen des Sicherheitsrats | |
haben die Resolutionen der Generalversammlung zwar nur | |
Empfehlungscharakter. Nichtsdestotrotz wirken sie als Ausdruck des Willens | |
der internationalen Gemeinschaft zweifach: vorschreibend („soll“) und | |
legitimierend („darf“). Gerade jetzt sind beide Funktionen unerlässlich. | |
Einerseits würden die Maßnahmen, die eine Uniting-for-Peace Resolution | |
empfiehlt, zu starken Geboten. | |
Sie würden vermitteln, was die Weltgemeinschaft in der aktuellen Situation | |
als angemessenes Handeln ansieht. Sie verstärken den Handlungsdruck und | |
erzeugen zudem einen besonderen Rechtfertigungsdruck, wenn man von ihnen | |
abweicht. Andererseits würde eine UN-Resolution den Maßnahmen eine | |
Legitimation verleihen. Dies wäre bei all den Maßnahmen besonders relevant, | |
die über das Recht auf Selbstverteidigung hinausgehen und als militärische | |
Zwangsmaßnahmen zur Wiederherstellung des Friedens unbedingt einer | |
Mandatierung des Sicherheitsrats bedürfen, weil sie ansonsten | |
völkerrechtswidrig wären. | |
Hätte man es mit einem anderen Gegner als dem nuklear bewaffneten Russland | |
zu tun, würden vermutlich militärische Zwangsmaßnahmen der UN-Charta | |
erwogen werden. Aufgrund des [5][hohen Eskalationspotenzials] ist dies | |
jedoch nicht wahrscheinlich. Möglich und sinnvoll wäre hingegen als erstes, | |
einheitliche nichtmilitärische Maßnahmen zu empfehlen, wie den Abbruch | |
diplomatischer, militärischer oder ökonomischer Beziehungen mit Russland. | |
Statt individueller, unilateraler oder regionaler Schritte wäre aktuell ein | |
in den UN abgestimmtes multilaterales Vorgehen hilfreich, um ein alle | |
Staaten umfassendes, zielgerichtetes und effektives Sanktionsregime zu | |
errichten und dessen Unterlaufen zu erschweren, zumal einige Staaten vor | |
bestimmten Sanktionen jetzt schon zurückscheuen. | |
Zweitens könnte die Generalversammlung eine*n Sondergesandte*n damit | |
beauftragen, zwischen den Konfliktparteien zu vermitteln und ein | |
Waffenstillstandsabkommen auszuhandeln. Ein drittes wichtiges Instrument | |
wäre eine Beobachter- oder Friedensmission, die die Vollversammlung nicht | |
zuletzt mit dem Auftrag entsenden könnte, die Zivilbevölkerung zu schützen, | |
zu versorgen und einen humanitären Korridor für Flüchtlinge abzusichern. | |
Der Sicherheitsrat ist durch seine Struktur und Zusammensetzung nicht in | |
der Lage, angemessen auf diese Krise zu reagieren. Das entlässt die | |
UN-Mitglieder mitnichten aus ihrer Verantwortung, sich für die Wahrung des | |
Friedens und der Sicherheit einzusetzen. Der institutionelle Weg steht | |
ihnen durch Uniting for Peace offen. | |
28 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] /UN-Sicherheitsrat-und-die-Ukraine/!5837572 | |
[2] https://legal.un.org/avl/ha/ufp/ufp.html | |
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/un-sicherheitsrat-249.html | |
[4] /Peking-im-Russland-Ukraine-Konflikt/!5837263 | |
[5] https://www.t-online.de/nachrichten/id_91739044/ukraine-krieg-wladimir-puti… | |
## AUTOREN | |
Elvira Rosert | |
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