# taz.de -- Fotobuch über Ostdeutschland: Schöne Welt, gemeines Leben | |
> Seit den 70er Jahren dokumentiert Ulrich Wüst die Entwicklung | |
> ostdeutscher Städte. Seine „Stadtbilder“ liegen nun erstmals umfassend | |
> abgebildet vor. | |
Bild: Berlin Lichtenberg, Mai 1983 | |
Eine Straßenansicht am Rande Berlins, das Schild weist mit geschlungenem | |
Pfeil Richtung Zentrum. Eine Keramikkachelwand mit Betontreppe in einer | |
Neubauwüste von Rostock; karge Bäumchen müssen gestützt und mit einem Zaun | |
geschützt werden. In Magdeburg stehen überfällige Altbauten auf einsamem | |
Rasen, der weitflächig Ruinen unter sich abdeckt. In Freiberg verheißt ein | |
Restaurant „Zur Bleibe“, aber – so, wie es ausschaut – aussichtslos. Un… | |
Gera trägt ein Stadtinformationsgebäude in die Brandmauer eingelassene | |
Glasbausteine, als wären dies Schießscharten eines Bunkers. | |
Den 1949 in Magdeburg geborenen [1][Fotografen Ulrich Wüst] interessieren | |
Stadt und bebaute Peripherien in diversen Zerfallsstadien, ohne dabei dem | |
ruin porn zu frönen. Seine Distanziertheit hatte auch taktische Gründe, | |
waren seiner Kollegin Helga Paris doch Aufnahmen vom desaströs verfallenen | |
Halle verboten worden. | |
Wüst ist kein DDR-Notalgiker, der die Überreste der Altstädte fotografisch | |
retten will, doch reizen ihn die Neubauten schon gar nicht. Vielmehr ist es | |
dieser eingestellte Alltag dazwischen, in den Resten und Winkeln einer | |
Poesie des Gemeinen, welcher seinen Aufnahmen abzulesen ist. Nach dem Krieg | |
und vor dem Abräumen der Flächensanierungen zeigen sich Übergänge und | |
Vorläufiges, Leeres und Offenes: Daraus könnte noch was werden. Aber – so | |
seine spürbare Lakonie – wohl eher doch nicht. | |
Fernwärmerohre, Bahnanlagen, Hochspannungsleitungen, Garagenanlagen und | |
leere Straßen bilden Infrastrukturen der Stadt und Mobiliar des | |
Städtischen. Im Gefühl einer „ewig währenden DDR“ würden die Dinge heute | |
oder ja auch morgen noch bestehen. Diese Welt ist schön, das Leben darin | |
gemein. Viele Schattierungen von Grau geben der Melancholie Ausdruck. | |
Eigentlich jedoch fotografiert er Leblosigkeit, „wenn ich also das Gebaute, | |
das Tote vorführen will“: lauter kriegsversehrte Invalidenstraßen. | |
## Akkumulation von Bildern | |
Ulrich Wüst akkumuliert Bilder und arbeitet in Blöcken, bis sie zu einem | |
Konvolut zusammenfinden. Das kann eine Ausstellungsserie werden, eine | |
Publikation oder ein Leporello als private Archivform zwischen Kontaktabzug | |
und Buch. In Wüsts Büro stehen etwa hundert solcher Papp-Kameraden als | |
Registratur zum eigenen Gebrauch. | |
Die „Stadtbilder“-Serie wurde erstmals 1986 in der innovativen Berliner | |
Galerie am Helsingforser Platz und dann wieder auf der [2][documenta 14] | |
gezeigt. Und liegt nun dank dem Stuttgarter Verlag Hartmann Books mit einer | |
Einführung von Matthias Flügge sowie einem instruktiven Interview mit | |
Ulrich Wüst von Katia Reich vor. Das Buch umfasst die kompletten fünfzig | |
Bilder des edierten „Stadtbilder“-Portfolios sowie fünfzig weitere Bilder | |
von 1979 bis 1985, die von Ulrich Wüst hierfür erstmals abgezogen wurden. | |
Ende der 1970er Jahre, also mit dem Entstehen der „Stadtbilder“-Serie, | |
entdeckte er „die ersten völlig neuartigen Bilder aus Amerika und von den | |
Bechers“. Mit der einflussreichen Publikation „New Topographics: | |
Photographs of a Man-Altered Landscape“ wandelte sich der dokumentarische | |
Blick hin zu un-natürlichen Stadtlandschaften und Fabriktypologien. | |
Und plötzlich war die von Krieg und Industrialisierung geschundene DDR | |
nicht mehr ganz so fern vom Grauen, welches ihm auch aus dem Westen | |
entgegenschlug. „Jedenfalls verspürte ich eine gewisse Langzeitwirkung | |
dieser, lange Zeit kaum auf Sympathie stoßenden und eher angefeindeten, | |
lapidar daherkommenden Bilder.“ Fern vom mit dem Aufbauwillen ringenden | |
nationalen FotografInnentum hatte der Solitär Wüst nun weitläufige | |
Verbündete. | |
## Traurige Reisen | |
Der durch Stadt- sowie Regionalplanung akademisch geschulte Wüst ließ den | |
Bürotrott im Berliner Planungsmagistrat bald hinter sich, weil er dort das | |
Bessere – realistisch betrachtet – nicht würde erreichen können. So wich … | |
auf die fotografische Betrachtung des Existierenden aus. | |
Als reisender Gelegenheitenfotograf für die Designzeitschrift form+zweck | |
sowie als Bildredakteur fest angebunden für Farbe und Raum „lag es nahe, | |
ein wenig Beifang zu machen“. Hierfür machte sich Wüst im Selbstauftrag auf | |
den Weg seiner „vielen traurigen Reisen“. | |
Lange vor Ort warten für optimale Lichtverhältnisse oder dann am einzelnen | |
Bild in der Dunkelkammer tüfteln war sein Ding nicht: Er musste ja noch den | |
letzten Zug zurück nach Berlin erwischen. Entscheidender war, dass seine | |
Bilder stets gedruckt und somit öffentlich gesehen wurden. | |
„Heute hat Ulrich Wüst diese Form des Fotografierens aufgegeben. Es gibt ja | |
nichts Neues“, schreibt der Kunsthistoriker Matthias Flügge am Ende seiner | |
Einleitung. Mit Wüsts Teilrückzug in die nördliche Uckermark erweitern sich | |
die Stadtbilder um solche vom Land oder um Details der eigenen Behausung. | |
Aufkommende Landlust hält er sich ähnlich spröde vom Leibe wie die Bauten | |
auf seinen Streifzüge durch ostdeutsche Städte. | |
Wüst trauert dieser DDR nicht nach; zugleich wird ihm sein Berliner | |
Wohnumfeld immer fremder. „Ganz anders also als im Osten, der mir | |
offensichtlich ein ‚lebenslänglich‘ verordnet hat. Hier nehme ich teil, und | |
das kann durchaus eine aggressive Anteilnahme sein, voller zwielichtiger | |
Erinnerungen und Sarkasmen.“ | |
5 Feb 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://ulrichwuest.de/ | |
[2] https://www.documenta14.de/de/artists/13588/ulrich-wuest | |
## AUTOREN | |
Jochen Becker | |
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