| # taz.de -- Lehren der Handball-EM: Wenn Timo Kastening lächelt | |
| > Verdrängung von Problemen ist nicht immer das Falscheste. Beim Schauen | |
| > von Handball im Fernsehen wird das sehr deutlich. | |
| Bild: Ausnahmsweise mit ernstem Gesicht: Timo Kasting beim Wurf | |
| Handball-EM ist wie „Grease“ gucken, man fühlt sich völlig aus der Zeit | |
| gefallen. Es könnte an den Frisuren liegen, die wirken, als wäre die | |
| Formatvorlage eine beliebige nordhessische Abiturklasse der späten 90er | |
| gewesen. Oder an der Wurstigkeit der Verantwortlichen. Oder auf die | |
| tiefergehenden strukturellen Probleme, auf die diese Wurstigkeit hinweist. | |
| Aus der Zeit heißt natürlich jenseits von Corona. Verdrängung hat einen | |
| schlechten Ruf: maus will sich den Problemen nicht stellen, heißt es dann | |
| schnell. Aber es ist natürlich anders; nicht jedes Problem kann gelöst | |
| werden, es ist auch gar nicht notwendig, jedes Problem zu lösen, außer man | |
| leidet unter einem Napoleon-Komplex. Das ist aber eher was für Fußballer, | |
| im Handball heißt es hingegen mantrenartig: „Nicht jedes Gegentor kann | |
| verhindert werden.“ Deswegen: Verdrängung (oder auch die ähnlich | |
| verunglimpfte Löschung) ist eine adäquate Rohrzange im Werkzeugkasten der | |
| Wirklichkeitsbewältigung. Aber nicht zu jedem Problem der Wirklichkeit | |
| passt eine Rohrzange. Alle, die aus der Zeit gefallen sind, wissen das, | |
| weil sie „Werner – Beinhart!“ gesehen haben. | |
| Es ist einerseits schön, Leute wie [1][Timo Kastening] spielen zu sehen. | |
| Seine Welt ist eine zuckerwattendicke Komfortzone. Ihm verspringt ein Ball: | |
| er zuckt die Schulter und lächelt. Er trifft ein Tor: er freut sich. Jemand | |
| macht was: der junge Mann ist selig. Timo Kastening hat ewig gute Laune, | |
| auf eine unaufdringlich gerade Art, dass klar ist: der will nur spielen. | |
| Und es freut ihn, dass das gerade geht. Und es ist auch alles gar nicht so | |
| ernst, sondern federleicht. Man könnte denken, er sei aus einem | |
| Morgenstern-Gedicht, einem ganz spezifischen: Als ein Vogel nämlich auf dem | |
| Leim sitzt und nicht heim kann, es naht die Katze, er wird gefressen | |
| werden, und daraufhin „der Vogel denkt: Weil das so ist / und weil mich | |
| doch der Kater frisst / so will ich keine Zeit verlieren / will noch ein | |
| wenig quinquillieren / und lustig pfeifen wie zuvor“. Der Vogel hat Humor. | |
| Im letzten [2][Gruppenspiel], gegen Polen nun, hat Timo Kastening nicht | |
| gespielt: er ist gefressen worden beziehungsweise hat sich mit Corona | |
| infiziert. Das ist aus zwei Gründen bedauerlich: erstens weil ideal wäre, | |
| niemand erkrankte. Zweitens, es kam sofort ein junger Mann nach, der die | |
| Herzen im Sturm eroberte; [3][Julian Köster] war’s, der da durch Polens | |
| Reihen preschte, als seien das Maisgarben, und sich immer wieder so | |
| sensationell freimütig freute, man hätte ihn gern geherzt. Der hat nicht | |
| nur die spielerische Lücke mitgeschlossen, die der Ausfall von insgesamt | |
| neun Spielern riss, sondern auch die emotionale Bresche, die Timo Kastening | |
| hinterließ. Jeder ist ersetzbar, auch der fröhliche junge Mann, dem | |
| scheinbar nichts etwas anzuhaben kann; der neben all den Kolossen obendrein | |
| so zart und filigran wirkt, obwohl selbst 1,80 groß. Aber weil die anderen | |
| alle aussehen, als würden sie Betonbrückenpfeiler zum Frühstück verspeisen, | |
| sieht er halt aus wie ein Schulbub. | |
| Zart sind auch die Nachfragen der öffentlich-rechtlichen Berichterstattung, | |
| wenn es um die pandemischen Ausbrüche in der Mannschaft geht. Geht’s denn | |
| allen gut, wird dann gefragt, und nicht etwa: Was machen wir hier | |
| überhaupt? Was mache ich hier eigentlich überhaupt, die Frage muss ich mir | |
| auch stellen lassen, ohne Fernsehzuschauer*innen würde man sich das | |
| Ganze ja klemmen. Aber ach, ohne ein kleines bisschen Weltflucht geht es | |
| nicht, man schaltet ein und lächelt, wie Timo Kastening lächelt, aber tief | |
| drinnen weiß man auch: Unbeschwert darf man stets nur – scheinen. Alles | |
| Gute, Timo Kastening, und den anderen natürlich auch. | |
| 20 Jan 2022 | |
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