# taz.de -- Argentinische Krisen: 20 Jahre nach 2001 | |
> Gleichzeitigkeit und Distanz: Wenn die Krise damals ein Ausbruch auf der | |
> Straße war, dann gibt es heute eine Implosion in den Häusern. | |
Bild: Ausschreitungen in Buenos Aires am 20. Dezember 2001 | |
In [1][Argentinien] jährt sich diesen Monat zum zwanzigsten Mal die Krise | |
von 2001. Sie war sowohl eine enorme wirtschaftliche Krise – als solche | |
markierte sie das Ende der freien Konvertierbarkeit zwischen Peso und | |
Dollar –, als auch eine politische: Der Präsident Fernando de la Rúa | |
verließ das Amt, ihm folgten vier weitere in wenig mehr als einer Woche. | |
Vor allem aber handelte es sich um eine Glaubwürdigkeitskrise der | |
neoliberalen Austeritätspolitik, die das Land in Windeseile umgekrempelt | |
hatte. | |
Zwischen dem 19. und 20. Dezember drängten die Menschen, viele von ihnen | |
arbeitslos geworden, mit Wucht auf die Straßen. Sie protestierten lautstark | |
gegen die Banken, die ihre Sparkonten eingefroren hatten, schlugen auf | |
Kochtöpfe, blockierten Kreuzungen. Es war ein kollektives „Basta“ gegen die | |
Armut, den Gehorsam gegenüber dem Internationalen Währungsfonds und dem | |
Versuch, soziale Proteste zu unterbinden. | |
Die Bilder der Krise und ihrer Widerstandsformen gingen um die Welt: | |
Fabriken, die von den Arbeitern besetzt wurden, Tauschbörsen, | |
Parallelwährungen und Nachbarschaftsversammlungen. Es handelte sich auch um | |
einen Wendepunkt in den regionalen Volkserhebungen, die schließlich den | |
politischen Weg für eine Reihe progressiver Regierungen ebneten. | |
Diese Revolten schufen in Lateinamerika erstmals ein Momentum für | |
postneoliberale Debatten. Seitdem steht 2001 für die gesellschaftliche | |
Fähigkeit, „Nein“ zu sagen, ein kollektives Veto auszusprechen, die | |
Brüchigkeit politischer Repräsentation aufzuzeigen. | |
Auch nach 20 Jahren ist die Erinnerung an die Proteste noch immer störend, | |
denn das Vergangene weist auch Parallelen [2][zur aktuellen | |
Konjunkturkrise] auf: Etwa die erneute Staatsverschuldung beim IWF – die | |
2018 von Expräsident Mauricio Macri aufgenommenen Schulden sind die | |
höchsten in der Geschichte Argentiniens und zugleich das größte Darlehen, | |
das die Institution je ausgegeben hat. | |
Die Dollarisierung der Wirtschaft, die 2001 abgelehnt wurde, bedeutet heute | |
eine tägliche Kurssteigerung dieser Währung, zusammen mit einer | |
De-facto-Dollarisierung von Waren des täglichen Bedarfs. Lebensmittel, | |
Medikamente, Mieten – alles hängt von den inoffiziellen „blauen Dollars“ | |
ab, die den Alltag in absurdem Rhythmus verteuern und der Grund für die | |
derzeitige Rekordinflation ist: 45 Prozent laut offizieller Zahlen. | |
Zwanzig Jahre danach: Gleichzeitigkeit und Distanz. Oder Überschneidung und | |
Ferne. Die Formen gesellschaftlicher Mobilisierung existieren weiter, doch | |
die alltägliche Krise bedarf einer anderen Handhabung. | |
Wir müssen ein anderes Bild bemühen, wenn wir von Krise sprechen. Wenn 2001 | |
ein Ausbruch auf der Straße war, dann haben wir heute eine Implosion in den | |
Häusern. Diese Verschiebung ist wichtig, um die [3][Dynamik der häuslichen | |
Gewalt] zu begreifen, die Prekarisierung verschiedener | |
Gesellschaftsbereiche, bis hinein in die illegale Wirtschaft. | |
Im Unterschied zu 2001 sprechen wir, wenn wir von Schulden sprechen, nicht | |
mehr nur von Auslandsschulden, sondern auch von der tiefgreifenden | |
Verschuldung privater Lebensbereiche. In der Pandemie galoppiert die | |
private Überschuldung, während Teile der Daseinsfürsorge – Essen, | |
Gesundheit, Wohnen – zunehmend von der Logik der Finanzwirtschaft, des | |
Agrobusiness, der Immobilienkonsortien bestimmt werden. Heute sehen wir uns | |
einer Krise gegenüber, die am besten ein Slogan der sozialen und | |
feministischen Bewegungen zusammenfasst: „Die Schuld ist mit uns.“ | |
Aus dem Spanischen: Nina Apin | |
30 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Verónica Gago | |
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