| # taz.de -- Die Wahrheit: „In echt verkaufe ich Kinder!“ | |
| > Das große Wahrheit-Interview mit einem, der in Tanne macht. Und bei aller | |
| > Weihnachtshektik dabei äußerst cool bleibt. | |
| Bild: Der Verkauf in der vierten Jahreszeit schultert den Jahresverdienst | |
| In dritter Generation betreibt Sven Kwadritzke (52) seinen Tannenbaumhandel | |
| am Rande der Dortmunder Innenstadt. Die Wahrheit besuchte jetzt den | |
| „Händler der vierten Jahreszeit“ an seinem Standplatz. Im mit bunt | |
| blinkenden Lichterketten dekorierten Maschendrahtviereck gewährt der | |
| zierliche Hochsauerländer während einer Dreizigarettenpause tiefe Einblicke | |
| in sein nadeliges Tagesgeschäft. | |
| taz: Lassen Sie uns über Weihnachten reden. Wie läuft das Geschäft? | |
| Sven Kwadritzke: Läuft. Ende Juli bin ich bei gut 25.000 Euro in Bitcoin | |
| gegangen. Hat sich seitdem plus minus verdoppelt. Die Frage ist natürlich | |
| immer: Noch halten oder jetzt Gewinn realisieren? Was meinen Sie? | |
| Also, das war aber nicht meine Frage … | |
| Unter uns: Ich hab im Darknet der Handwerkskammer Düsseldorf erfahren, dass | |
| der dramatische Mangel an Baustoffen spätestens Mitte Januar die Kurse noch | |
| mal richtig treiben wird. Frage also: Raus aus BTC? Rein in Holz? | |
| Genau. Ihr Weihnachtsbaumgeschäft, wie läuft’s? | |
| Ach das. Mach ich wegen der Steuer. Ist mehr so’n Abschreibungsding. | |
| Obacht, da vorne kommen die 2G-Deputys vom Ordnungsamt um die Ecke. Halten | |
| Sie mir mal fix Ihr Handy unter die Nase. Ich hypnotisier kurz den QR-Code. | |
| Und die Kunden? Ist die Stimmung gereizter als in den Vorjahren? | |
| Nicht gereizter als sonst. Also sehr gereizt. Ohne professionelles Phlegma | |
| schaffst du das hier nicht. Schauen Sie sich den Typen neben mir an. | |
| Vertickt verbrannte Mandeln und gematschte Maronen. Guckt aus der Wäsche | |
| wie Jesus im Endstadium. Heute Mittag hat er sich auf ’ne Euro-Palette | |
| gestellt und gebrüllt: „Ich habe Menschen gerufen – aber es ist wieder nur | |
| Kundschaft gekommen.“ | |
| Also, wie schaffen Sie das? Was ist Ihr Rezept? | |
| Cool bleiben. Nächste Woche ist Ruhe im Karton. Heiligabend mittags kommt | |
| immer mein Lieblingskunde. Entspannter Realist. „Weihnachten ist Familie – | |
| so wie’n Pflichtspiel gegen den Angstgegner.“ Das ist sein Credo. „Da | |
| kannst du von Glück sagen, wenn du mit ’nem torlosen Unentschieden ins Bett | |
| geschickt wirst.“ | |
| Und das Vorspiel bei Ihnen? | |
| Morgens pflügt er durch die City und tut, was ein Mann tun muss. Letzte | |
| Station bin ich: Baum holen. Vorher zieht er bei Rewe noch eine polnische | |
| Tiefkühlgans aus der Truhe. Ich hab ihn mal gefragt: „Wie kriegst du die | |
| eigentlich noch rechtzeitig aufgetaut?“ Er: „Auf der Heizung. Und dann | |
| immer volle Düse mit dem Föhn drauf. Das Tier muss vorher schon richtig | |
| schwitzen, damit die Vogelgrippe da rauskommt. Darfste nur nicht so nah | |
| rangehen mit dem Föhn. Falls die nicht gut gerupft ist, gibt’s Spliss.“ | |
| Ein Witzbold? | |
| Nö, eher ein nüchterner Typ. Bevor er bei mir den Baum kriegt, greift er | |
| sich bei Douglas noch was von der Stapelware. Immer den Damenduft des | |
| Jahres. Dieses Jahr „Here to stay“. Tja, für einen realistisch veranlagten | |
| Mann ist es wahrscheinlich ein großes Geschenk, wenn sie über die Feiertage | |
| wenigstens ein bisschen so duftet wie Naomi Campbell, ne? | |
| Aber bis Heiligabend ist es ja noch hin. | |
| Ach was. Sitz ich doch auf einer Arschbacke ab. Bisschen Bitcoins traden, | |
| bisschen rauchen. Zwischendurch kümmere ich mich um die bewussten | |
| Baumverbraucher. Kommen immer in Öko-Camouflage, Barbour-Jacke oder | |
| zertifizierte Funktionstextilie. Und dann wünschen sie Produktberatung: | |
| „Handelt es sich um eine heimische Tanne? Ist der Baum aus regionalem | |
| Anbau? Kann ich die Schale mitessen?“ | |
| Und sagen Sie dann die Wahrheit? | |
| Na hörnse mal. Nicht jeder Dienstleister ist ein Unmensch. Es ist doch so: | |
| In Wirklichkeit verkaufe ich Kinder! Das sind ja ganz junge Pflänzchen. | |
| Noch nicht mal fortpflanzungsfähig. Das, wo die Völker ihr Lametta | |
| dranhängen, sind eigentlich frisch gefällte Babys. Die Wahrheit kann ich | |
| den Menschen doch nicht zumuten. Also sag ich: „Global denken, lokal | |
| ernten. Ich arbeite nur mit mir persönlich bekannten Baumproduzenten aus | |
| der Region. Vorzugsweise Demeter-Standard, mindestens aber Bioland-Siegel. | |
| Limitiertes Kontingent, nachhaltig, in deutschem Mutterboden ausgebaut. | |
| Keine Vermischung mit Fremdkulturen. Es spricht überhaupt nichts dagegen, | |
| meine Damen und Herren, den Baum auch einfach mal nur auf den Arm zu | |
| nehmen!“ | |
| Vielen Dank für das Gespräch, Herr Kwadritzke. | |
| 21 Dec 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Fritz Eckenga | |
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