| # taz.de -- Experte über Bosnien und Herzegowina: „Es macht sich Kriegsangst… | |
| > Der starke Mann der serbischen Teilrepublik, Milorad Dodik, stürzt | |
| > Bosnien und Herzegowina in die Krise. Daran trägt der Westen Mitschuld. | |
| Bild: Wandgemälde des früheren Militärchefs Ratko Mladić in Belgrad | |
| taz am wochenende: Herr Weber, nächste Woche will die Führung der | |
| serbischen Teilrepublik Srpska Entscheidungen im Parlament durchsetzen, die | |
| Bosnien und Herzegowina weiter auseinanderreißen würden. [1][Manche | |
| sprachen sogar von einer Kriegsgefahr.] Was ist da wirklich los? | |
| Bodo Weber: Wir haben es mit der tiefsten Krise seit Ende des | |
| Bosnienkrieges zu tun. Der starke Mann der serbischen Teilrepublik, | |
| [2][Milorad Dodik], versucht eine faktische Sezession ohne formelle | |
| Ausrufung durchzusetzen. Es droht die Desintegration des Staates, die auf | |
| keinen Fall gewaltfrei sein wird. Das Daytoner Abkommen von 1995 war ein | |
| Friedensvertrag, der den Bosnienkrieg beendete, schuf zugleich aber eine | |
| Verfassungsordnung für das Land. | |
| Mithilfe der internationalen Institutionen wurde in den folgenden Jahren | |
| der Staat schrittweise in eine halbwegs funktionale institutionelle Ordnung | |
| verwandelt. Dodiks angekündigter, verfassungswidriger Schritt würde 26 | |
| Jahre internationaler Bemühungen einschließlich demokratischer und | |
| rechtsstaatlicher Reformen zunichtemachen und das Land zurück ins Chaos | |
| stürzen. | |
| Was ist der Grund für Dodiks Revolte? | |
| Dodik ist nicht allein, er hat Partner auf der kroatischen Seite. | |
| Hauptverantwortlich sind aber die EU und die USA. | |
| Warum das denn? | |
| Die Krise des Westens, der Verlust des Vertrauens in die liberale | |
| Weltordnung infolge des Irakkriegs hat zu einem schrittweisen Rückzug der | |
| USA von der Weltbühne geführt. Das spiegelt sich seit 15 Jahren in Bosnien. | |
| Ab 2005 haben die Vereinigten Staaten die Führung an die EU abgetreten. Das | |
| hatte einen Strategiewechsel zur Folge: von einer Statebuilding- und | |
| Demokratisierungspolitik, also der Schaffung eines funktionalen Staates, | |
| hin zu einer Übertragung der Macht an die lokalen Eliten. | |
| Man hat den ethnonationalistischen Eliten also die Verantwortung für das | |
| Land quasi über Nacht vor die Füße gekippt. Die Eliten, allen voran Dodik, | |
| nutzen das aber seitdem, um interethnische Spannungen zu schüren. Der | |
| fehlende Wille von EU und USA zu einer politischen Korrektur, das Fehlen | |
| einer strategischen Politik, nähren seit 15 Jahren diese destruktive | |
| Dynamik. | |
| Kann man aber Dodik von der Schuld an der jetzigen Krise freisprechen? | |
| Natürlich nicht. Dodik hat als Erster erspürt, welche Chancen sich für ihn | |
| ergeben. Er ist ein klassischer Machiavellist und hat sich vom | |
| Reformkommunisten 1990 zum Zigarettenschmuggler im bosnischen Krieg, dann | |
| vom sozialdemokratischen Hoffnungsträger des Westens in der Teilrepublik | |
| Srpska nach dem Krieg zum serbischen Nationalisten entwickelt. Seit 15 | |
| Jahren testet er die roten Linien des Westens mit dutzendfachen | |
| Sezessionsdrohungen. | |
| Hat er Komplizen? | |
| Ja, gemeinsam mit dem kroatischen Nationalisten Dragan Čović und der | |
| größten bosniakischen Partei hat er in den vergangenen 10 Jahren | |
| international geförderte demokratische und rechtsstaatliche Reformen | |
| weitgehend rückgebaut. Mit Čović betreibt er zugleich die schrittweise | |
| ethnoterritoriale Redefinierung der staatlichen Ordnung. Wenn aber die | |
| Macht von serbischen und kroatischen Mehrheitsgebieten ausgeht, führt das | |
| zwangsläufig zur Auflösung des Staates Bosnien und Herzegowina. | |
| Schon lange fordern die Minderheiten der Juden und Roma Gleichberechtigung. | |
| 2009 gab der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg ihnen recht. Das hätte | |
| doch den Verhandlern von EU und USA vor Ort zu denken geben müssen. | |
| Hat es aber nicht. Leider ist die Politikschwäche von EU und USA in Bosnien | |
| und dem weiteren Westbalkan nach den Krisenjahren 2015 und 2016 – Stichwort | |
| Flüchtlingskrise, Brexit und Trumps Wahlsieg – in offene Kollaboration mit | |
| den nationalistischen Eliten umgekippt. Diplomaten und Botschafter der | |
| EU-Staaten und der USA haben aufgrund des Fehlens einer strategischen | |
| Politik in den westlichen Hauptstädten begonnen, sich mit ihrem | |
| nationalistischen Gegenüber in der Region zu arrangieren und „Deals“ zu | |
| organisieren. | |
| Das hat sich 2020 auch [3][in der Stadt Mostar] gezeigt, die seit Jahren | |
| ethnisch gespalten ist. | |
| Ja, die lokalen EU- und US-Vertreter haben vergangenes Jahr die politische | |
| Krise „gelöst“, indem sie zur faktischen ethnoterritorialen Teilung der | |
| Stadt in einen westlich-kroatischen und einen östlich-muslimischen Teil | |
| beigetragen haben. Als Teil dieses Abkommens wird seit Februar eine | |
| sogenannte Wahlrechtsreform in Bosnien und Herzegowina verhandelt, die | |
| Dragan Čović entgegenkommt. Letztlich wird so die Spaltung des Landes | |
| vertieft. | |
| Seit 1995 gibt es den Hohen Repräsentanten der internationalen | |
| Gemeinschaft, derzeit ist das der [4][frühere deutsche | |
| Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt]. Er soll die Umsetzung des | |
| Abkommens von Dayton überwachen, kann Gesetze erlassen. Ist er machtlos? | |
| Das Amt ist von westlicher Seite selbst geschwächt worden. Seit 15 Jahren | |
| wird die Macht des Hohen Repräsentanten zur Freude der Nationalisten | |
| systematisch unterhöhlt. Vor allem Deutschland war bis 2014 führend daran | |
| beteiligt. Schmidts Vorgänger, Valentin Inzko, bekam keine Unterstützung, | |
| die Unterhändler der EU und der USA haben ihn zur Seite geschoben. Mit dem | |
| von ihm erlassenen Gesetz, die Verherrlichung von Kriegsverbrechen und die | |
| Leugnung des Genozids unter Strafe zu stellen, hat er kurz vor Ende seiner | |
| Amtszeit ein moralisches Zeichen gegen die westliche Politik gesetzt, das | |
| nicht abgesprochen war. | |
| Sein Nachfolger, Christian Schmidt, hat das gleiche Problem. Seine | |
| Nominierung ausgerechnet durch Angela Merkel erfolgte ohne klare politische | |
| Strategie Berlins und hat weiter zur politischen Eskalation und | |
| Radikalisierung von Dodik geführt. Der nutzte die Gelegenheit, die | |
| Abschaffung des Amts zu fordern, und konnte dabei mit der Rückendeckung aus | |
| Russland rechnen. | |
| Russland ist also ein mächtiger Spieler geworden? | |
| Vor 10 Jahren war schon klar, dass Russland auf dem Balkan zurück ist, | |
| obwohl Russland kein genuines strategisches Interesse am Balkan hat. | |
| Russland nutzt aber die strategische Schwäche des Westens aus und versucht | |
| das so entstandene Vakuum durch die Unterstützung Dodiks zu füllen und so | |
| dem Westen ohne großen Aufwand massiven Ärger zu bereiten. Im | |
| Sicherheitsrat hat Russland gerade mit einem Veto gegen die jährliche | |
| Verlängerung des Mandats der EU-Militärmission in Bosnien, Eufor, gedroht. | |
| Um die Vetomacht Russland zu bewegen, das Mandat zu verlängern, stimmten | |
| sie dem Verlangen Russlands zu, dass der Hohe Repräsentant nicht wie die 26 | |
| Jahre zuvor seinen Rechenschaftsbericht dem Gremium vortragen darf. Der | |
| Westen ist auf Putins Erpressung eingegangen und hat dem Hohen | |
| Repräsentanten verwehrt, eine Rede über die Lage in Bosnien zu halten. | |
| Schafft sich der Westen so selbst ab? | |
| Die Eufor hat das Mandat, militärisch bei Bedrohungen der staatlichen | |
| Integrität Bosniens zu intervenieren. Sie und die Nato könnten dem | |
| Dodik-Spuk ein schnelles Ende bereiten, indem die Nato ein paar hundert | |
| Truppen in die für die Teilrepublik Srpska strategisch wichtige Stadt Brcko | |
| entsenden würde. | |
| Die meisten Menschen in Bosnien hoffen nach wie vor, der Westen möge sie | |
| beschützen. Wie wirkt denn das alles auf die Menschen vor Ort? | |
| Die meisten haben sich schon lange von der korrupten Politik der Eliten | |
| abgekoppelt, sie verlassen seit einigen Jahren auf der Suche nach einem | |
| „normalen Leben“ massenhaft das Land. Doch zum ersten Mal macht sich | |
| aktuell auch massive Angst vor einem neuen Krieg breit. | |
| 13 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erich Rathfelder | |
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