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# taz.de -- Fußballfans beim kolumbianischen Clásico: Kampf um Sieg und Teilh…
> In Kolumbiens Clásico treffen am Sonntag Independiente Medellín und
> Atlético Nacional aufeinander. Fußball hat hier auch eine politische
> Macht.
Bild: Bunte Vorfreude: Anhänger von Independiente Medellín zeigen ihre Clási…
Blau-rote Rauchschwaden umhüllen die Nordtribüne des Estadio Atanasio
Girardot. Die riesige Blockfahne, unter der die Ultras von Independiente
Medellín verschwunden sind, ist von der Haupttribüne nicht mehr zu sehen.
Hinter der Nordtribüne steigen Raketen in den pechschwarzen Nachthimmel von
Medellín. Auf der gegenüberliegenden Seite zünden die Fans von Atlético
Nacional grün-weiße Nebeltöpfe.
Es ist der erste Clásico Paisa seit Beginn der Coronapandemie, der Mitte
Oktober vor Zuschauern ausgetragen wird. Das Spiel endet 1:1. Nicht das
einzige Ergebnis an diesem Tag. Stunden vor dem Spiel kommt es zu einer
Eskalation der Gewalt. Rund 30 Mitglieder der Rexixtenxia Norte, der
größten Fangruppierung von Independiente Medellín, werden von
Nacional-Anhängern mit Macheten angegriffen.
Das Duell zwischen Nacional und Medellín. Atlético Nacional ist der
erfolgreichste Verein Kolumbiens: [1][Rekordmeister und zweimaliger Sieger
der Copa Libertadores], dem südamerikanischen Pendant zur Champions League.
Der Verein hat Fans im gesamten Land und gehört der Organización Ardila
Lülle von Carlos Ardila Lülle, einem im August verstorbenen kolumbianischen
Milliardär norddeutscher Abstammung. Der Klub hat finanzielle
Möglichkeiten, von denen Independiente Medellín nur träumen kann. Der Kader
von Tabellenführer Nacional ist der teuerste der Liga. Der Marktwert eines
Nacional-Spielers ist im Durchschnitt fast doppelt so hoch wie der eines
Independiente-Spielers.
Deportivo Independiente Medellín wurde 1913 gegründet und ist der
zweitälteste Fußballverein Kolumbiens. Sportlich ist der Verein nur
Durchschnitt, verfügt aber über eine extrem loyale und regional verwurzelte
Fanszene. „Durch die hohe Identifikation mit dem Verein schaffen es die
Fans, ein Gegengewicht zu der zahlenmäßig überlegenen Fanszene des Giganten
Nacional zu bilden“, sagt Edward Castro von der Sportzeitung Marca.
## Größten Proteste seit 50 Jahren
Stunden vor dem Anpfiff ist die Straße „La Setenta“ fest in grün-weißer
Hand, den Farben des Rekordmeisters. In der Straße reihen sich Kneipen,
Clubs und Restaurants aneinander. „La Setenta“ liegt hinter der Südtribün…
der Heimat der Barras von Atlético Nacional. Barras, so heißen die
organisierten Fangruppen in Südamerika. In der berühmt-berüchtigten Straße
reihen sich Kneipen, Clubs und Restaurants aneinander.
„Die überwiegende Mehrheit in den Ultragruppen ist von sozialer Armut
betroffen“, sagt David Leonardo Quitián Roldán, Antropologe an der
Hochschule Fundación Universitaria Compensar. „Für diese vom System
ausgegrenzten jungen Menschen ist der Fußball zur wirksamsten Möglichkeit
geworden, für ihre sozialen Forderungen zu kämpfen.“ Beim Fußball seien sie
nicht mehr unsichtbar, führt Quitián Roldán aus.
[2][Im Frühjahr und Sommer erlebte Kolumbien die größten Proteste seit 50
Jahren.] Die Menschen gingen gegen die rechte Regierung und für
Sozialreformen auf die Straße. Die Barras spielten dabei eine wichtige
Rolle. Sie mobilisierten, organisierten und protestierten gemeinsam, über
Vereinsgrenzen hinweg. Sie vertreten dabei linke Positionen, fordern mehr
Bildung, ein gerechteres Steuersystem und verteidigen das Friedensabkommen
zwischen der Regierung und der Farc-Guerilla.
Bei den Protesten standen die Barras in der vordersten Reihe, der Primera
Línea. Sie führten Demonstrationen an und verteidigt die Blockaden bei
Angriffen der Polizei und des Militärs. Im Laufe der Proteste wurden alle
Gruppen der Primera Línea von der Regierung als terroristische
Vereinigungen eingestuft.
Am Tag des Spiels bleibt es auf den Rängen zunächst friedlich. Mitte der
ersten Halbzeit kommt es im Block der Medellín-Anhänger zu einer internen
Rangelei, die zu einer handfesten Auseinandersetzung wird. Bevor eine
Gruppe von schwergeschützten und bewaffneten Polizisten den Block erreicht,
hat sich die Situation schon beruhigt. Während es vor und im Stadion
ansonsten ruhig bleibt, sind Videos von dem brutalen Machetenangriff in den
sozialen Netzwerken schon lange im Umlauf. „Das sind keine Fans und das
schadet dem Fußball“, sagt ein junger Nacional-Anhänger. Lokale Medien
vermelden, dass es vier Verletzte gibt. Zwei von ihnen sind schwer
verletzt, überleben aber.
## Ermordung nach einem Eigentor
Die Gewalt, die Kolumbien über Jahrzehnte lähmte und nie ganz verschwunden
ist, war dem Fußball nie fern. Die Ursache für die Gewalt im
kolumbianischen Fußball sieht Quitián Roldán in der Fragilität des Staates,
im Mangel an Bildung und Chancen. Prügeleien und Messerstechereien zwischen
verschiedenen Fangruppen waren lange Normalität. Dazu waren die großen
Vereine über Jahre von Drogenkartellen unterwandert. So war Atlético
Nacional lange in der Hand des Medellín-Kartells. Trauriger Höhepunkt war
1994 die Ermordung des Nationalspielers Andrés Escobar von Atlético
Nacional, der mit einem Eigentor das WM-Aus Kolumbiens mitverursacht hatte.
Der Täter war Leibwächter mächtiger Drogenbosse.
Der Stellenwert des kolumbianischen Fußballs ist in der breiten Bevölkerung
nicht mit dem in Brasilien oder Argentinien zu vergleichen, wo Fußball
Religion ist. Aber für die Fans in den kolumbianischen Kurven sind die 90
Minuten Karneval auf der Tribüne eine Flucht aus dem oft schwierigen
Alltag. Unabhängig von der sportlichen Leistung, egal ob ihre Mannschaft
gewinnt oder verliert, die Fans singen und springen bis zum Abpfiff. Kein
Durchhaltevermögen zu haben gilt als Zeichen der Schwäche und Feigheit und
stellt die Identifikation mit dem eigenen Verein in Frage.
Der Führungstreffer für Außenseiter Medellín versetzt die rot-blaue
Fankurve in pure Ekstase, die Tribüne bebt. Die Fans liegen sich in den
Armen, einige scheinen es kaum fassen zu können, andere stürmen Richtung
Spielfeld, Absperrgitter fallen um. Wieder erhellen Raketen den Nachthimmel
der Metropole.
„Der Fußball ist für viele Menschen der einzige Sport, zu dem sie Zugang
haben, was die Ausübung und den kulturellen Konsum betrifft“, sagt Quitián
Roldán. „Ein Team zu haben bedeutet, einen Platz in der sozialen Gruppe zu
haben. Es ist ein Faktor der Integration und des Stolzes“, so der
Anthropologe weiter. Aber auch in Kolumbien steigen die Ticketpreise, und
die Spiele werden nicht mehr im frei zugänglichen Fernsehen übertragen.
Eine Karte für einen Stehplatz in der Fankurve kostet beim Stadtderby
umgerechnet etwas weniger als 7 Euro. Der monatliche Mindestlohn im Land
beträgt rund 210 Euro. Schätzungen zufolge arbeitet rund die Hälfte der
kolumbianischen Bevölkerung im informellen Sektor und verdient in der Regel
noch nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Für große Teile der
Bevölkerung wird es immer schwieriger, Fußballspiele zu verfolgen.
Noch ist der Fußball eines der wenigen Gesprächsthemen in Kolumbien, das
soziale Schichten überwindet. Auch am Sonntag wird die Stadt nur ein
Gesprächsthema kennen, dann teilt sich Medellín auf in grün-weiß und
rot-blau.
14 Nov 2021
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## AUTOREN
Tim Spark
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