# taz.de -- Die Wahrheit: Von Mao-Flossen und anderen Fischen | |
> Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (133): Alles über liebe | |
> und voll böse Karpfen. Besonders die, die aus China kommen. | |
Bild: Mensch und Karpfen haben ein besonderes Verhältnis zueinander | |
Es gibt vier – den Graskarpfen, der Wasserpflanzen frisst und dessen Kacke | |
die Algen düngt; den Silberkarpfen, der ebenso wie der Marmorkarpfen | |
Plankton einsaugt und Algen frisst, von denen aber auch kleine | |
Wassertierchen leben, die der Schwarze Amurkarpfen frisst. Alle vier | |
chinesischen Karpfen profitieren von diesem „System“, wie die amerikanische | |
Ökojournalistin Elizabeth Kolbert deren Zusammenspiel in ihrem | |
Reportagebuch über Weltretter („Wir Klimawandler“, 2021) nennt. Dieses | |
System – eine „integrierte Polykultur“ – habe es „den Chinesen ermög… | |
ungeheure Karpfenmengen zu ernten – allein 2015 etwa 22 Milliarden Kilo“. | |
Auf einen Rat der Meeresökologin Rachel Carson hin, statt Chemikalien gegen | |
invasive oder parasitäre Arten einzusetzen, sie biologisch – mit anderen | |
Arten – zu bekämpfen, fing man 1963 auch in den USA an, mit ihnen zu | |
züchten: Sie sollten die Flüsse und Seen von einer alles zuwuchernden | |
Wasserpflanze befreien, die die Schifffahrt behinderte. Einige dieser | |
„Mao-Karpfen“ entkamen ihren Zuchtbecken und flüchteten in den Mississippi, | |
von wo aus sie flussaufwärts schwimmend außer Kontrolle gerieten – auch | |
ihre Fruchtbarkeit. | |
In aller Eile beauftragte man das für Großprojekte zuständige United States | |
Army Corp of Engineers, die chinesischen Karpfen daran zu hindern, bis in | |
die Großen Seen vorzustoßen. Konkret: „Es sollte den Sanitary and Ship | |
Canal für Fische unpassierbar machen“, schreibt Elizabeth Kolbert. Der | |
Kanal beginnt in Chicago am Michigansee und führt bis an das | |
Mississippi-Flusssystem. | |
Dem Army Corps fielen natürlich technische Lösungen ein – gegen den | |
„Staatsfeind Nummer eins“, wie sie die chinesischen Karpfen in ihrem | |
„Hauptquartier in Chicago“ nennen: „elektrische Fischsperren, Blasen, Lä… | |
und vieles mehr. Etwa fünfzig Kilometer von Chicago entfernt befinden sich | |
heute elektrische Fischsperren, die auch für Schwimmer tödlich sein können, | |
und laufend verbessert werden, außerdem ist dahinter eine Lärm-Blasen-Wand | |
geplant. | |
## Ein See nahe Morris | |
Bei einem See nahe Morris, der mit dem Illinois River verbunden ist, gibt | |
es eine Trennlinie: Südlich der Stadt findet man die chinesischen Karpfen | |
in Massen, nördlich davon jedoch kaum welche: „Viel Zeit, Geld und Fisch | |
wird auf Bemühungen verwandt, dass es so bleibt.“ Ein Biologe erklärte | |
Elizabeth Kolbert: „Unser Ziel ist es, den Karpfen von den Großen Seen | |
fernzuhalten. Wir verlassen uns nicht auf die elektrischen Sperren.“ | |
Zur Fortpflanzung brauchen die Fische fließendes Wasser, nach dem Laichen | |
ziehen sie sich in stehendes Gewässer zurück. Im See werden die | |
chinesischen Karpfen mit langen Stellnetzen gefangen. Ein Fischer, mit dem | |
die Autorin sprach, verdient damit sein Geld (über 5.000 Dollar | |
wöchentlich), dass er im Auftrag des Illinois Department of Natural | |
Resources chinesische Karpfen tötet. In einer Woche „holten die Männer | |
6.404 Silberkarpfen und 547 Marmorkarpfen mit einem Gesamtgewicht von über | |
25.000 Kilo aus dem Wasser. Die Fische wurden auf einen Sattelschlepper | |
geladen, der sie in eine Fabrik brachte, „wo sie zu Dünger verarbeitet | |
wurden“. | |
In der Stadt Bath in Illinois veranstaltet man Angelturniere, bei denen es | |
um die großen, schweren chinesischen Silberkarpfen geht, die bei Gefahr im | |
Schwarm aus dem Wasser springen – bis zu einen Meter hoch. Die gefangenen | |
Karpfen enden ebenfalls in einer Düngemittelfabrik. | |
## Mit der Pump-Gun | |
Alle anderen von den Anglern gefangenen Fische werden wieder ins Wasser | |
geworfen. Mitunter ist ein europäischer Karpfen darunter. „Auch sie gehören | |
einer invasiven Spezies an, die in den 1880er Jahren aus Europa eingeführt | |
wurde.“ Inzwischen sind sie jedoch „einheimisch“ geworden. Auf | |
[1][anglerboard.de] wird berichtet, dass Karpfen in den USA hauptsächlich | |
mit Pfeil und Bogen „geangelt“ werden. Ein anderer Eintrag lautet: „Soweit | |
ich mich erinnere, wird dort sogar mit der Pump-Gun auf Karpfen geballert … | |
scheint also eher eine Karpfen-Jäger-Scene zu sein.“ Ob es sich dabei um | |
europäische oder um chinesische Karpfen handelt, wird nicht klar, auch | |
nicht, was anschließend mit den Fischen geschieht. | |
Die Germanistin Simone Loleit erzählt in der Zeitschrift Tierstudien | |
(19/2021) eine Karpfen-Fabel aus dem „Dialogus Creaturarum Moralisatus“ | |
(Nr. 46) nach: „Der Karpfen rühmt sich seiner Herkunft aus dem Gardasee und | |
seines besonderen Aromas und leitet daraus Herrschaftsansprüche ab, was die | |
von ihrem eigenen blumigen Wohlgeruch und Geschmack ebenfalls sehr | |
eingenommene Äsche nicht akzeptieren will. Nachdem ihr Versuch, den Karpfen | |
auf sein Herkunftsgewässer zu verweisen, scheitert und sich die | |
Fischgesellschaft bereits in zwei Parteien zerstritten hat, rät die Forelle | |
den beiden Kontrahenten, sich zum Delfin, dem Meeresrichter, zu begeben. | |
Dieser ‚prüft‘ die Qualität der beiden, indem er sie auffrisst.“ | |
Das möchte man in den USA auch mit den chinesischen Karpfen tun: sie | |
aufessen. Dazu gibt es bereits Aufklärungsfibeln – wie man sie angelt und | |
zubereitet; auf „Karpfenfesten“ werden Fischpasteten und -frikadellen | |
angeboten, Texte über invasive Arten verteilt und mit Sprüchen wie „Wenn du | |
sie nicht besiegen kannst, iss sie“ geworben. Eine Firma macht aus ihnen | |
Hundefutter. | |
## Einmal rund um die Welt | |
Man könnte sie auch nach China exportieren, wo sie eine Delikatesse sind, | |
dazu müsste man sie jedoch einfrieren, die Chinesen essen aber lieber | |
frischen Fisch. Und für die Amerikaner haben die Karpfen zu viele Gräten. | |
Weil alle Versuche, sie maschinell zu entgräten, scheiterten, hat man sie | |
in Louisiana gefangen, dann eingefroren und nach Ho-Chi-Minh-Stadt in | |
Vietnam transportiert. Dort werden die chinesischen Karpfen aus dem | |
Mississippi aufgetaut, verarbeitet (wahrscheinlich von jungen Arbeiterinnen | |
mit Mundschutz), vakuumverpackt, wieder eingefroren und nach New Orleans | |
zurückgebracht. | |
Von da aus gelangen sie mit Lkws auf das „Karpfenfest“ in Illinois, wo man | |
aus den Restkarpfen nun Frikadellen von einem Fisch namens „Silverfin“ | |
(Silberflosse) isst. „Vom Setzling zum Fingerfood haben sie gut 30.000 | |
Kilometer zurückgelegt“, schätzt Elizabeth Kolbert, „dabei ist die Reise | |
nicht mitgezählt, die ihre Vorfahren erstmals von China in die Vereinigten | |
Staaten brachte.“ Nach dem Verzehr eines der durchaus schmackhaften | |
Silverfin-Buletten fragt sie sich, ob „das tatsächlich die ‚Lösung für d… | |
chinesischen Karpfen‘ war?“. | |
Eher geschmacklos scheint ein Berliner Start-up-Unternehmen namens Holycrab | |
zu sein, das drei Millennials gründeten, die das „Potential von | |
Schädlingen“ erkannten, indem sie nun „Tiere und Pflanzen, die in | |
Deutschland zur Plage geworden sind, als Delikatesse auf die Teller | |
bringen“ – von „Wollhandkrabbe“ über „Sumpfkrebs bis Waschbär“, w… | |
Illustrierte Stern 2020 titelte, die sich dabei die Frage stellte: | |
„Schmeckt der Waschbär überhaupt?“ | |
Es dauert bestimmt nicht mehr allzu lange, bis die chinesischen Karpfen | |
auch in Europa zur Plage und im Anschluss der Masse zum Verzehr angeboten | |
werden. Vielleicht sogar als „Mao-Flossen“. | |
8 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] http://www.anglerboard.de | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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