# taz.de -- Klimaneutrale Wärmeerzeugung: Es geht auch ohne Gas | |
> Das Bündnis Kohleausstieg Berlin hat eine Studie vorgestellt – ihr | |
> zufolge lässt sich Wärme bis spätestens 2035 ganz ohne fossile Energie | |
> erzeugen. | |
Bild: Wärme gibt es nicht umsonst – aber vielleicht doch bald fossilfrei? | |
Das dickste Brett, das es in Sachen Klimaneutralität zu bohren gilt, ist | |
nicht – wie immer noch viele glauben – der Verkehr oder der von den | |
Haushalten genutzte Strom, sondern die Versorgung mit Wärme. Das Erhitzen | |
von Wasser, das in der kalten Jahreszeit durch die Heizkörper fließt, aber | |
auch in Bad und Küche direkt genutzt wird, verursacht heute im Land Berlin | |
fast die Hälfte der CO2-Emissionen. | |
Weil die Zeit bei den Pariser Klimazielen drängt, hatte das Bündnis | |
Kohleausstieg Berlin Anfang des Jahres eine „Potenzialstudie“ beim | |
Fraunhofer-Institut für Energiewirtschaft und Energiesystemtechnik | |
[1][(IEE)] in Kassel in Auftrag gegeben. Am Dienstag wurde sie vorgestellt. | |
Sie soll zeigen, dass die klimaneutrale Wärmeversorgung der BerlinerInnen | |
bis 2035 technisch möglich ist – laut Kohleausstieg Berlin sogar bis 2030, | |
wenn auch die bundesweiten Rahmenbedingungen entsprechend angepasst würden. | |
Robert Egelkamp, ein Autor der IEE-Studie, betonte, der Wärmebedarf lasse | |
sich durch energetische Sanierung zwar senken, dieses Einsparpotenzial | |
stoße jedoch irgendwann an Grenzen. Es komme also auf die Erzeugung der | |
Wärme an. „Hier haben wir im Fernwärmesektor eine große Hebelwirkung“, so | |
Egelkamp: Grob betrachtet mache die zentrale Wärmeerzeugung, bei der heute | |
noch die Kohlekraftwerke des [2][Großversorgers Vattenfall] die Hauptrolle | |
spielten, ein Drittel aus. | |
Vattenfalls eigenes, zusammen mit der Senatsverwaltung für Klimaschutz | |
entwickeltes Szenario sieht vor, bis 2030 aus der Kohleverbrennung | |
auszusteigen und zwei Drittel der benötigten Wärme erst einmal mit Erdgas | |
zu erzeugen. Letzteres kommt im IEE-Szenario als fossile Energiequelle | |
überhaupt nicht vor. Stattdessen sollen ebenfalls fast zwei Drittel der | |
Wärme aus „Umwelt- und Abwärme“ kommen. Gemeint sind sowohl das direkte | |
Anzapfen der Sonne durch Solarthermie und die Förderung von Wärme aus | |
tiefen Erdschichten (Geothermie), aber auch die Nutzung von Wärme aus | |
Fließgewässern und von industrieller Abwärme. | |
## Grade aus Spree und Havel fischen | |
Dafür müssten vor allem im Umland insgesamt rund 10 Quadratkilometer mit | |
Panels zum Ernten von Sonnenwärme bebaut werden. Große Wärmetauscher würden | |
einige Temperaturgrade aus Spree und Havel entnehmen, diese und auch die | |
aus der Tiefe der Erde gehobene Wärme müsste dann mit elektrisch | |
betriebenen Wärmepumpen so angehoben werden, dass sie ins Fernwärmenetz | |
eingespeist werden kann. Industrielle Abwärme ließe sich etwa aus Stahl- | |
und Zementwerken im Umland abzapfen, aber auch aus der boomenden | |
Rechenzentren-Branche. | |
Der Rest würde laut IEE-Studie direkt mit Strom („Power to Heat“) erzeugt, | |
zu einem kleinen Teil aus dem Verbrennen von Restmüll und Altholz – sowie | |
zu rund 6 Prozent aus Wasserstoff. Das aufwendig herzustellende bzw. zu | |
importierende klimaneutrale Gas werde gebraucht, um den Wärmebedarf bei | |
Spitzenlasten zu bedienen. Denn wenn es im Winter doch noch mal knackig | |
kalt wird, soll trotzdem niemand frieren. | |
Weil für all diese Erzeugungsarten in unterschiedlichem Maße elektrischer | |
Strom benötigt wird, hängt die Klimaneutralität aber auch davon ab, wie | |
sich der bundesweite Strommix entwickelt. Erst wenn der in Deutschland | |
verbrauchte Strom komplett aus erneuerbaren Energiequellen stammte, fielen | |
die klimaschädlichen Emissionen durch Berlins Fernwärmeversorgung praktisch | |
auf Null. | |
Kohleausstieg Berlin fordert nun vom künftigen Senat eine gesetzliche | |
Regelung, die alle fossilen Energieträger bis 2035 aus dem Wärmenetz | |
verbannt. Damit werde der von Vattenfall geplante Bau eines riesigen | |
[3][Gaskraftwerks] unrentabel. Für Michelle Grunwald von Fridays for Future | |
ein enorm wichtiger Punkt, wie sie am Dienstag betonte: „Wer jetzt noch ein | |
solches Kraftwerk bauen will, macht sich schuldig an einer globalen Krise.“ | |
## Wärmenetze vergesellschaften? | |
Wie Eric Häublein von Bürger Begehren Klimaschutz ergänzte, könnten die | |
Berliner Stadtwerke als kommunales Unternehmen gegebenenfalls den privaten | |
Großversorger ablösen: „Das Land sollte mit Vattenfall über den Rückkauf | |
der Wärmenetze verhandeln und eine Vergesellschaftung prüfen.“ | |
Aber wie schon erwähnt: Zwei Drittel der Berliner Wärme werden dezentral | |
erzeugt. Das IEE setzt hier neben dem Anschluss weiterer Stadtteile ans | |
Fernwärmenetz vor allem auf Luft- und Boden-Wärmepumpen. Bei der | |
Vorstellung der Studie forderte Tilman Heuser vom BUND Berlin, das Land | |
dürfe den Einbau neuer Gasheizungen – als Ersatz von Ölheizungen oder | |
veralteten Gaskesseln – nicht länger fördern und müsse die energetische | |
Sanierungsrate „massiv erhöhen“. Gerade bei frei stehenden | |
Einfamilienhäusern ist das Einsparpotenzial deutlich größer als im Fall von | |
Mietwohnungen in dicht bebauten Vierteln. | |
Die „Flughöhe“ der Studie sei relativ hoch, räumte Eric Häublein ein, | |
detailliertere Daten müsse die neue Landesregierung liefern. Dann lasse | |
sich auch klarer absehen, welche Kosten durch das IEE-Szenario entstünden. | |
Von rund 4 Milliarden Euro für Investitionen war am Dienstag die Rede, aber | |
es gehe ja um ein „riesengroßes Projekt mit riesengroßem Mehrwert“. | |
Dem [4][Bündnis Kohleausstieg Berlin] gehört ein Dutzend klimapolitisch | |
aktiver Organisationen an, unter anderem Attac, BUND, Greenpeace Berlin, | |
die Grüne Liga und die Initiative Klimanotstand Berlin. | |
12 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.iee.fraunhofer.de/ | |
[2] /Kraftwerk-Besetzung-in-Berlin/!5701859 | |
[3] /Studie-zum-Kohleausstieg/!5624729 | |
[4] https://www.kohleausstieg-berlin.de/ | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
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