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# taz.de -- Die Wahrheit: Die nackte Schulter des Sommers
> Ein Phänomen der vergangenen Jahreszeit: die einseitige Entblößung junger
> Damen. Und die Erklärmaschine springt sofort an.
Bild: Musikerin Billie Eilish mit neckisch nackter Schulter
Es war dringend an der Zeit, dass es Herbst wurde. Mit der kühleren
Jahreszeit verschwindet nun nämlich eines der rätselhaftesten Phänomene des
Sommers, der in der andauernden Pandemie selbst ein merkwürdiges
Zwischending war mit seiner kurzen Hitzeperiode und der langen Phase
prasselnden Starkregens.
Erstmals fiel es auf, als eine Mutter mit ihrer pubertierenden Tochter die
Straße entlanglief und überdrüssig mit den Augen rollte, weil die noch sehr
junge Dame ihr dünnes Jäckchen immer wieder akkurat auf einer Seite
herunterzog und ihre Schulter freimachte: Es war der Sommer der einseitigen
Entblößung. Und das war offenbar sehr wichtig, zumindest für die Mädchen –
nur eine nackte Schulter zu zeigen.
Neben den blanken Bauchnabeln und den freien Fußfesseln war die entblößte
Schulter der letzte Schrei der auslaufenden Saison. Vermutlich hat die
Sehenswürdigkeit irgendein Pop-sternchen hervorgebracht, das außerhalb des
Teenagerkosmos niemand kennt, das aber bei den einschlägigen Sozialdiensten
für Backfische milliardenhohe Zugriffe vorzeigen kann.
## Kuss in der Zwischenzeit
Sofort rattert die innere Erklärmaschine los: In Zwischenzeiten wie den
zwanziger Jahren taucht die nackte Schulter gern in der Damenmode auf.
Schulterfrei zu gehen, bedeutet Entblößung und Zurückhaltung, Aufforderung
und Einschränkung, Scham und Arroganz zugleich. Eine Stelle für den
hingehauchten Kuss zu bieten, ist ebenso frivol wie unsicher. Und
ausgerechnet das ist jetzt in MeToo-Zeiten wieder in Mode? Wenn
verunsicherte Männer Signale kaum zu deuten wissen?
Für Pubertiere ist der Hauch von Sex in den Zwischenjahren wichtiges
Element des andeutenden Ausprobierens. Ein ebenso ungefährlicher wie
prickelnder Sport. Und dazu gehört die nackte Schulter, die Freiheit von
Zwängen, aber auch Kälte symbolisieren kann, vor allem jedoch etwas
Unerklärliches hat.
Nur die höheren Töchter und Söhne des Zeit-Magazins wussten die Zeichen der
Zeit sofort konkret zu deuten. Die leichte Schulter sei der Look der
Stunde, weil sie ein Symbol für die Impfung gegen Corona sei, heißt es.
Wirklich? Ist das so öde und plump? Weil Menschen derzeit millionenfach
eine Spritze in den Arm bekommen, laufen die jungen Mädchen mit einer
entblößten Schulter herum?
Warum müssen die professionellen Erklärer immer allem den Reiz des
Geheimnisvollen rauben? So soll der blanke Bauchnabel in der Mode ein
Zeichen der jungen Weiblichkeit sein, mit dem älteren Frauen signalisiert
wird, dieser Körper gebar noch nicht und ist deshalb sexy; während die
freien Fußfesseln unter engen Hosenrändern selbst im eiskalten Winter
älteren Damen die gesunde Widerstandsfähigkeit gegen leidige
Blasenerkältungen demonstrieren sollen.
Warum kann nicht einfach etwas rätselhaft Schönes für sich stehen? Und
durch das Verschwinden im Herbst in der Erinnerung zu etwas werden, was es
tatsächlich ist: Nur ein unschuldiges Phänomen des Sommers, eine nackte
Schulter.
24 Sep 2021
## AUTOREN
Michael Ringel
## TAGS
Mode
Sexualität
Sommer
Die Wahrheit
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Picknick
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