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# taz.de -- Familiennachzug aus Afghanistan: Kein Sprachnachweis, kein Visum
> Adib S. wartet seit Jahren auf seine Frau. Sie sitzt in Afghanistan fest,
> weil das Auswärtige Amt den Familiennachzug verschleppt hat.
Bild: Das Auswärtige Amt hat den Nachzug der Frau von Adib S. aus Afghanistan …
Falls es noch einen Funken Hoffnung gegeben hat, so ist der in den
vergangenen Tagen von Wut und Verzweiflung verdrängt worden. Seit
zweieinhalb Jahren kämpft der im Kreis Düren lebende Adib S. um den
Familiennachzug seiner Ehefrau Fereshta (Namen zum Schutz der Betroffenen
geändert; d. R.) aus Kabul. „Die Bürokratie lässt uns keinen Spielraum mehr
für Hoffnung“, sagt der 38-jährige Softwareentwickler.
Der gebürtige Afghane war 2001, damals 17 Jahre alt, als Geflüchteter nach
Deutschland gekommen, holte hier am Abendgymnasium das Abitur nach und lebt
heute in Nordrhein-Westfalen. Sechs Jahre nach der Einreise wurde er
eingebürgert.
Schikanen der deutschen Behörden sind S. nicht fremd. Und doch war er nicht
darauf vorbereitet, dass es so schwer werden würde, seine heute 22 Jahre
alte Frau Fereshta nach der Hochzeit im Februar 2019 in Afghanistan nach
Deutschland zu holen.
Und dass dieses Vorhaben nun, nach der fast vollständigen Eroberung des
Landes durch die Taliban in diesem Sommer, praktisch unmöglich erscheint –
egal wie sich die Dinge mit dem Visum für die Einreise der Ehefrau noch
entwickeln. Oder gibt es doch noch die Chance auf ein Happy End?
## Wartezeit: Mindestens ein Jahr
Die Sache mit dem Visum hat sich bei Fereshta S., wie bei vielen anderen
Antragsteller*innen, als kompliziert erwiesen. Nach dem Bombenanschlag
auf die [1][Deutsche Botschaft in Kabul Ende Mai 2017] wurde die dortige
Konsularabteilung geschlossen. Die Visavergabe läuft seither über die
Auslandsvertretungen in Pakistan und Indien.
In der pakistanischen Hauptstadt Islamabad waren im Mai dieses Jahres 1.879
Terminanfragen von afghanischen Staatsangehörigen für den Familiennachzug
anhängig, in der indischen Metropole Neu-Delhi 1.138. Die Wartezeiten auf
einen Antragstermin liegen – so erging es auch Familie S. – bei einem Jahr
und zuweilen auch länger, wie die Bundesregierung im Juni auf eine Anfrage
der Linksfraktion im Bundestag berichtete.
Vorrangig werden Visa zur Fachkräfteeinwanderung erteilt, die für den
Familiennachzug nur „im Rahmen der verfügbaren Kapazitäten“. Mancher kommt
nach Jahren zum Ziel, andere nie.
Fereshta S. nutzte die Wartezeit, um Deutsch zu lernen, denn der
[2][Nachweis über einfache Deutschkenntnisse ist seit 2007] Voraussetzung
für den Nachzug von Ehepartnern. Sie übte mit ihrem Mann, absolvierte einen
acht Monate langen Kurs an einer Sprachschule in Kabul, kaufte sich die
Sprach-App Babbel. Ein Lehrbuch füllte sie auf Deutsch aus.
## Ab nach Taschkent!
Beim Sprachtest des Goethe-Instituts in Neu-Delhi aber fiel sie durch, 22
von 100 Punkten. Zu wenig, beschied das Auswärtige Amt (AA). Das
Ministerium sah „kein ernsthaftes und nachhaltiges Bemühen über die Dauer
von mindestens einem Jahr“. Und ließ sich auch nicht erweichen, nachdem
Fereshta S. ihren Fall mit Hilfe der Aachener Rechtsanwältin Christine
Hunger vor das Verwaltungsgericht Berlin brachte.
Immer wieder forderte das AA einen vom Goethe-Institut zertifizierten
Sprachtest – der in Afghanistan nicht möglich ist –, selbst dann noch, als
die Coronapandemie Reisen in Asien extrem gefährlich machte. Indien war
inzwischen Hochrisikogebiet. Unabhängig davon sind die Reisen in die
Nachbarländer inklusive Unterkunft und Visum sehr teuer. Online sind die
Tests bisher nicht möglich.
Im Mai 2021 schrieb das AA in einer Stellungnahme für das
Verwaltungsgericht, die anhaltende Pandemie könne „nur bedingt zu einem
Absehen der Nachweispflicht der Sprachkenntnisse führen“.
Zwar seien einzelne Prüfungen bei Goethe-Instituten in Nachbarländern
verschoben worden, die Klägerin hätte dennoch „ausreichend Zeit gehabt,
eine erneute Prüfung zu absolvieren“. Und wenn es aktuell
Einreisebeschränkungen zum Beispiel nach Pakistan und Indien gebe, so könne
doch immer noch „ohne Probleme eine Prüfung im Goethe-Institut Taschkent
absolviert werden“.
## Binationale Familien: Kein Einzelfall
Am 22. Juni schrieb Christine Hunger, die Anwältin von Fereshta S., an das
Verwaltungsgericht: „Es ist davon auszugehen, dass Afghanistan von den
Taliban übernommen wird oder in einen Bürgerkrieg verfällt. (…) Fraglich
ist, ob die Klägerin in einigen Monaten aufgrund von einem bewaffneten
Konflikt überhaupt noch aus dem Land auf normalen Weg ausreisen kann. Wer
übernimmt dafür dann die Verantwortung?“
Schon damals riet die Anwältin ihrer Mandantin mit Hinweis auf die prekäre
Sicherheitslage davon ab, einen neuen Sprachkurs in Kabul zu besuchen.
Hunger sah Entwicklungen voraus, von denen das AA damals noch nichts wissen
wollte.
Für Expert*innen ist die anhaltende Verschleppung beim Familiennachzug
aus Afghanistan skandalös. Auf die lange Bank geschoben, sei es nun für
viele zu spät, heißt es. [3][Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt]
sagte der taz: „Es rächt sich jetzt, dass über Jahre auf politischen Druck
hin entschieden wurde, nicht Recht und Gesetz und die Würde der Menschen in
den Vordergrund zu stellen. Die Angst vor 2015 war größer, als der Mut, zu
den eigenen Werten zu stehen.“ Marquardt spricht von einer „Abwärtsspirale
der Unwürdigkeit“.
[4][Der Verband binationaler Familien und Partnerschaften] machte vor
wenigen Tagen auf den Fall des deutschen Politikwissenschaftlers und
Dolmetschers Acim Aziz aufmerksam, dessen Frau in Kandahar festsitzt. Aziz
sagt: „Meine Frau kann nirgends hin, ihr Leben ist in Gefahr. Die deutschen
Behörden haben sie sehenden Auges ans Messer geliefert.“ Auch in diesem
Fall scheiterte der Familiennachzug am Deutschtest, der angeblich nur beim
Goethe-Institut in Pakistan zu absolvieren war.
## Ehe per Whatsapp
Die [5][Linken-Bundestagsabgeordnete Gökay Akbulut] sagte der taz: „Dass
deutsche Botschaften von Eheleuten mit einem Recht auf Familiennachzug
verlangen, in andere Länder zu reisen, um dort einen Sprachtest zu machen,
ist eine bodenlose Unverschämtheit. Ohnehin lässt sich die deutsche Sprache
am allerleichtesten in Deutschland erlernen.“
Die Sprachtests im Ausland unter oft sehr schwierigen Lernbedingungen seien
reine Schikane und gehörten abgeschafft. [6][Härtefallregelungen bei den
Sprachnachweisen] würden in der Praxis „nur sehr restriktiv angewandt“,
bedauert die Linken-Politikerin.
Wie es im Fall Fereshta S. jetzt weitergeht? Mitte Juli reiste Adib S. in
die afghanische Hauptstadt. Das Paar, obwohl in böser Vorahnung der
kommenden Entwicklungen im Land und keinesfalls sorglos, versuchte sich in
Normalität, besuchte Restaurants, traf die Familie. Viele aus der
Verwandtschaft, die früher in der Provinz lebten, hatten inzwischen
Unterschlupf im Haus der Schwiegereltern gesucht.
S. hatte seine Frau zu diesem Zeitpunkt 884 Tage lang nicht getroffen – die
Kommunikation der Eheleute läuft in der Regel über Whatsapp und andere
Messenger-Dienste, meist telefonieren die beiden fünf bis sechs Mal pro
Tag.
## Schikane durch die Taliban
Eine Woche vor dem Fall Kabuls reiste S. zurück nach Deutschland, ohne
seine Frau. Sein Traum, endlich ein gemeinsames Leben zu führen, blieb ein
Traum. Praktisch zeitgleich mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban
klagte Anwältin Hunger in einem neuen Eilverfahren beim Verwaltungsgericht
Berlin auf Ausstellung eines Visums zum Ehegattennachzug für Fereshta S.
Seitdem überschlugen sich die Ereignisse. In der Woche nach der Besetzung
Kabuls berichtete Adib S. der taz, er habe die aktuellen Gefahren
unterschätzt. Die Taliban hätten bei den Schwiegereltern nach einem Onkel
gefragt. Als dieser nicht da war, seien sie wieder verschwunden. Dafür sei
dann am Abend die Stromleitung zum Haus gekappt worden. „Ich habe bis drei
Uhr in der Nacht mit meiner Frau telefoniert und versucht, sie irgendwie zu
beruhigen. Sie hat nur noch Panik.“
Das Auswärtige Amt signalisierte derweil die Bereitschaft, den Fall
außergerichtlich zu lösen: Wenn die Klage zurückgezogen wird, könnte es
demnach ein Visum geben. Es wäre eine vage Perspektive, auch wenn noch
längst nicht alles klar ist.
Kommt Fereshta S. mit einem der Evakuierungsflüge der Bundeswehr aus dem
Land? Wie geht es anderen afghanischen Antragsteller*innen in
vergleichbarer Situation? Das Auswärtige Amt ließ eine Anfrage der taz zum
konkreten Fall und zum Familiennachzug aus Afghanistan allgemein am
Dienstag zunächst unbeantwortet.
## Mit Visum, aber ohne Flug?
Anwältin Christine Hunger sagt, schon vor der Eroberung Afghanistans durch
die Taliban wäre es aus humanitären Gründen verhältnismäßig gewesen, wenn
Menschen den Sprachnachweis in Deutschland erbringen können. „Es ist
unerträglich, dass Familienangehörige von Deutschen nicht in Sicherheit
sind, weil die Mühlen der Bürokratie im Auswärtigen Amt so unendlich
langsam mahlen.“
Für ihre Mandantin fordert sie nach einer Ausstellung des Visums auch einen
Platz in einem Evakuierungsflugzeug. In Anspielung auf das [7][Zitat des
damaligen Verteidigungsministers Peter Struck, der 2002] sagte: „Die
Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch
verteidigt“, erklärt Hunger: „Auch die Menschenrechte, etwa das Grundrecht
auf Ehe und Familie, müssen am Hindukusch verteidigt werden.“
Sicher ist der glückliche Ausgang nicht. Auf Twitter schimpft Adib S. als
@Steuer_Zahler über den „Bürokratie-Wahnsinn“. Im Profil des Accounts
stellt er sich vor als „Verzweifelter, der versucht ein Familienleben zu
haben“: „Mir geht es um das Leben meiner Frau. Jeder, der einen geliebten
Menschen in Afghanistan hat, sollte selbst aktiv werden und sich nicht auf
die Regierung und das Auswärtige Amt verlassen.“
Adib S. befürchtet: „Die Gefahr ist sehr groß, dass meine Frau zwar das
Visum bekommt, aber keinen Platz in einem Flugzeug der Bundeswehr.“ Es wäre
eine bittere Pointe. Nach dem Vergleichsangebot des AA fragt er: „Nur wie
bekomme ich meine Frau aus dem Land?“ Noch immer ist er sehr ernüchtert.
Ein wenig stolz ist er gewesen, als er 2007 Deutscher wurde. „Aber die
vergangenen drei Jahre haben mein Vertrauen in den Staat und die
Institutionen zerstört.“
24 Aug 2021
## LINKS
[1] /Anschlag-auf-deutsche-Botschaft-in-Kabul/!5425863
[2] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/MigrationAufenthalt/Ehegattennach…
[3] /Zivile-Luftbruecke-nach-Afghanistan/!5791447
[4] https://www.verband-binationaler.de/
[5] https://goekay-akbulut.de/
[6] https://www.migrationsrecht.net/nachrichten-auslaenderrecht-politik-gesetzg…
[7] https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesmini…
## AUTOREN
Matthias Meisner
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