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# taz.de -- Bizarre Rechtsprechung in Belarus: Absurde Gerichtsurteile
> Belaruss*innen dürfen nicht selbst entscheiden, wem sie ihre Wohnung
> vermieten. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk. Folge
> 96.
Bild: Wie in „Farm der Tiere“: Wohnhäuser in Belarus' Hauptstadt Minsk
Die Minskerin Olga Sinelewa hatte ihre Mieterin, die stellvertretende
Staatsanwältin Alina Kasjantschik, gebeten, aus ihrer Wohnung auszuziehen.
Dafür wurde Olga jetzt zu zwei Jahren Freiheitsbeschränkung ohne Einweisung
in ein Gefängnis verurteilt. Das bedeutet, dass sie nun ihre Wohnung nur
noch verlassen darf, wenn sie zur Arbeit geht und zu einer bestimmten Zeit
wieder zurück sein muss. Außerdem muss sie der Polizei regelmäßig ihren
Aufenthaltsort melden.
Die 22-jährige Alina Kasjantschik war Anklägerin bei hochkarätigen
politischen Fällen, unter anderem [1][im Prozess gegen die
Belsat-TV-Journalistinnen Katerina Andreewa und Daria Tschulzowa]: Die
beiden wurden für einen Video-Live-Stream von einer Demonstration zu einer
Haftstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Im vergangenen Jahr hatte Olga Sinelewa ihre Wohnung der jungen
Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft vermietet. Aber nach den Ereignissen
des Sommers 2020 bat sie Kasjantschik darum, die Wohnung freizugeben und
diese willigte ein. Als Alina eine neue Wohnung gefunden hatte, wurde der
Mietvertrag im beiderseitigen Einvernehmen aufgelöst. Konflikte hatte es
dabei zwischen der Wohnungsbesitzerin und Alina Kasjantschik keine gegeben.
Aber dann wurde plötzlich ein Strafverfahren eröffnet, basierend auf
„Diskriminierung einer Mitarbeiterin der Staatsanwaltschaft“ nach Artikel
190: „Verletzung der Gleichheit aller Bürger“. Man entschied sich, die
Gerichtsverhandlung nichtöffentlich stattfinden zu lassen, um „dem Opfer
und seiner Familie nicht zu schaden“: alle Zuschauer*innen und die
Presse wurden gebeten, den Gerichtssaal zu verlassen. Der Anwalt der
Angeklagten, Andrei Motschalow, erfuhr erst während der Verhandlung, dass
man ihm offenbar seine Anwaltslizenz entzogen hatte.
Das erinnert ein bisschen an eine kleine Rache, wenn etwas „den Gesetzen
nicht gewachsen ist“, wie Lukaschenko es treffend in einer seiner
öffentlichen Reden ausdrückte.
Bei der Wohnungseigentümerin hätte durch familiäre Umstände auch
Eigenbedarf vorliegen können. Auch wurde Alina Kasjantschik nicht von einem
Tag auf den anderen aus der Wohnung geworfen. Sie hatte Zeit, sich eine
neue Unterkunft zu suchen. Also, was war es? Ich weiß, dass sich das
deutsche Mietwohnungssystem vom belarussischen unterscheidet. Aber wenn
alle Papiere rechtlich einwandfrei ausgestellt wurden, kann das in
Deutschland für einen Wohnungseigentümer solche Probleme und eine solch
harte Strafe nach sich ziehen?
Man fühlt sich an „Farm der Tiere“ von George Orwell erinnert, wo „alle
Tiere gleich“ sind, aber „einige sind gleicher als andere“. Wenn Gefangene
in Untersuchungshaft bei 40 Grad Hitze nicht für den vorgeschriebenen
Spaziergang hinaus gelassen werden („Brief aus dem Gefängnis“), [2][wenn
sie keine Medikamente bekommen, sondern nur Schläge] und die Frage: „Seid
ihr alle noch am Leben in eurer Zelle?“ – ist das keine „Verletzung der
Gleichheit aller Bürger“?
Warum hat eine unerfahrene stellvertretende Staatsanwältin das Recht auf
irgendwelche besonderen Privilegien im Leben? Die Absurdität und
Gesetzlosigkeit, die jetzt in Belarus herrschen, sprengen alle Maßstäbe.
Sehr schade, dass Orwell nicht mehr mitbekommen konnte, dass seine Dystopie
mittlerweile Realität geworden ist. [3][Sogar in einem solch krassen
Ausmaß], wie er es sich auch mit sehr viel Fantasie nicht hätte vorstellen
können.
Aus dem Russischen von [4][Gaby Coldewey]
28 Jul 2021
## LINKS
[1] /Repressionen-in-Belarus/!5758673
[2] /Inhaftiert-in-Belarus/!5758672
[3] /Gesetzlosigkeit-in-Belarus/!5768035
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/
## AUTOREN
Janka Belarus
## TAGS
Kolumne Notizen aus Belarus
Schwerpunkt Krisenherd Belarus
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George Orwell
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Lesestück Recherche und Reportage
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