# taz.de -- Sachsen-Anhalt als Wahlheimat: Es heißt „Machdeburch“, du Vorel | |
> Viele kennen Sachsen-Anhalt nur vom Vorbeifahren auf der A2. Doch wer | |
> sich auf das Land einlässt, den erwartet viel Schönes – allen voran Ruhe | |
> und Platz. | |
Bild: Sachsen-Anhalt hat auch über'n Wahltag hinaus viel zu bieten – hier di… | |
Magdeburg – das wäre meine größte Enttäuschung.“ Mit diesen Worten mein… | |
damaligen „großen Liebe“ endete vor 20 Jahren meine Studienzeit in Leipzig. | |
Und ebenso besagte „große Liebe“. Denn ich ging doch nach Magdeburg. | |
Ich kannte die Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts vorher nicht. Nur vom | |
Vorbeifahren auf der A 2, auf dem Trip aus der alten Westheimat nach | |
Berlin. „Wir stehen früher auf“, hatte sich die Landesregierung im Jahr | |
2005 [1][auf die braun-weißen Grußschilder neben dem Standstreifen | |
gebauchpinselt]. „Natürlich stehen sie hier früher auf“, spottete ich | |
damals: „Sie müssen ja pünktlich an ihrem Arbeitsplatz in Niedersachsen | |
ankommen.“ | |
Geradeheraus und offen ist der Sachsen-Anhalter. Sagt, was er denkt, und | |
macht einem bestenfalls ein „J“ oder ein „R“ für ein „G“ vor. Echte | |
Sachsen-Anhalter können, je nachdem in welcher Ecke des Landes sie leben, | |
Sächsisch, Norddeutsch oder Brandenburgerisch. Trifft man auf einen | |
Ureinwohner der Landeshauptstadt, stellt er sofort klar: „Es heißt | |
Machdeburch, du Vorel!“ | |
Wenn man denn einen Ureinwohner trifft. [2][Viele haben sich nach der Wende | |
erst einmal abgewendet] (einige kamen später wieder zurück). Außerdem kamen | |
andere in das Land der Frühaufsteher, um so manches Dornröschen wieder | |
wachzuküssen. Leute, die hier Neues aufbauen wollen und in diesem Land | |
immer noch viel Gelegenheit dazu haben. | |
## Viel weite Natur | |
Wer das Bundesland nicht von West nach Ost durchbraust, sondern von Süd | |
nach Nord abfährt, stellt fest: Zwischen Arendsee und Zeitz tut sich der | |
Sachsen-Anhalter noch schwer. Seit Jahren stoppt [3][der Weiterbau der A | |
14], weil immer irgendwer klagt. Der Sachsen-Anhalter liebt eben seine | |
weite Natur. Davon hat er nämlich viel, auch wenn er nicht viel davon hat. | |
Schon früh wurde Sachsen-Anhalt Wolfserwartungsland. Lieber wäre man | |
Touristenerwartungsland. | |
Sachsen-Anhalt bietet eine Menge Kultur und Geschichte. Hier steht die | |
Wiege der Reformation, hier machte das Bauhaus Schule und hier liegt die | |
Straße der Romanik. Doch die Landesregierung von Sachsen-Anhalt schafft es | |
immer noch nicht, all dies auch werbewirksam zu vermarkten. Das | |
Ringheiligtum Pömmelte – ein Kultplatz aus dem dritten Jahrtausend vor | |
Christus – ist ähnlich bedeutungsschwer wie Stonehenge. Doch die auf einem | |
Acker bei Schönebeck im Kreis wieder aufgepflanzten Holzpflöcke mit | |
Laufpfaden aus recycelten Glasscherben dazwischen locken bestenfalls den | |
Bundesverband der Fakire zur Jahreshauptversammlung an. Kein Info-Center, | |
kein Souvenirshop. | |
Das 2018 eröffnete Museum in Machdeburch, in welchem die | |
Hinterlassenschaften von Otto dem Großen zu sehen sind, wurde „Ottonianum“ | |
genannt. Dass das kein Vorel auch nur annähernd korrekt aussprechen kann, | |
interessierte offenbar niemanden in der Tourismusabteilung. Zum Glück hat | |
sich wenigstens eine Botschaft aus Sachsen-Anhalt herumgesprochen: Die Erde | |
ist eine (Himmels-)Scheibe aus Nebra. | |
## Glaubenskrieg gegen den Lieblingsbäcker | |
Auch ich habe es noch nicht geschafft, alle fünf Unesco-Welterbestätten in | |
Sachsen-Anhalt zu besuchen. Ich war zum Bauhaus-Jubiläumsjahr 2020 nicht in | |
Dessau, habe im Jahr 2017 zum 500. Geburtstag der Reformation nicht ihre | |
Wiegen in Wittenberg und Eisleben besucht, ich wandelte noch nie durch das | |
Dessau-Wörlitzer Gartenreich oder den Naumburger Dom. | |
Dafür ziehe ich jeden Sonnabend in den Glaubenskrieg gegen meinen | |
Lieblingsbäcker, ob es nun Pfannkuchen heißt oder Berliner oder doch | |
Kräppel. | |
Mit noch mehr Kraftanstrengung ziehe ich jeden Sonntag die Gewichte der | |
Dorfkirchenuhr in meinem Ort in die Höhe (diesen Job kann man hier noch vom | |
Schwiegervater erben), damit die hiesigen Sachsen-Anhalter auch in Zukunft | |
früh genug aufstehen können. Steht der große Zeiger auf der neun, brülle | |
ich vom Turm hinunter: „Und es heißt ‚viertel vor‘, ihr Vörel, und nicht | |
‚drei viertel‘! Hier stehe ich und kann nicht anders.“ Doch sie glauben m… | |
nicht, die Bürger von Möckern. | |
Hierhin hat es mich verschlagen: in die mit 13.000 Einwohnern viertgrößte | |
Flächengemeinde Deutschlands. Auch so etwas gibt es nur in Sachsen-Anhalt: | |
durch Eingemeindung entstanden in diesem Bundesland gleich acht | |
Verwaltungseinheiten, die es – gemessen an ihrer Quadratmeterzahl – locker | |
mit Metropolen wie Köln, München, Dortmund oder Neustadt am Rübenberge | |
aufnehmen können. | |
Wer Ruhe und Platz sucht, ist in Sachsen-Anhalt richtig: die | |
Bevölkerungsdichte lag zuletzt bei 107 Einwohnern pro Quadratkilometer. In | |
meiner Wahlheimat kommen statistisch gesehen auf jeden Einwohner 37.591 | |
Quadratmeter. Mit viel Wald, Sand, sowie Mais und Raps für Biogasanlagen, | |
einer Menge Wolfskacke und noch mehr Windrädern. Unendliche Weiten, die | |
viele Menschen nie zuvor gesehen haben. | |
Und – man soll es nicht glauben – meine wirklich große Liebe habe ich | |
tatsächlich hier gefunden. | |
6 Jun 2021 | |
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## AUTOREN | |
Stephen Zechendorf | |
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