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# taz.de -- Arbeitskooperativen in Argentinien: In Eigenregie aus der Krise
> Dass Beschäftigte ihren insolventen Betrieb übernehmen, ist in
> Argentinien nicht neu. Es kann auch heute funktionieren – wie bei
> Farmacoop.
Bild: Der Schnelltest soll Farmacoop über die Zeit helfen: Produktionsleiterin…
Buenos Aires taz | Bevor [1][Argentiniens Kongressabgeordnete zu ihren
Sitzungen zusammenkommen, werden sie auf das Coronavirus getestet]. Der
Schnelltest stammt aus nationaler Produktion und wird in einer „Fábrica
Recuperada“ hergestellt, einem sogenannten wiedererlangten Betrieb. Seit
Januar liefert die Arbeitskooperative Farmacoop die Testkits. 2018 hatten
die Beschäftigten das damalige Pharmaunternehmen Roux-Ocefa in Eigenregie
übernommen.
Solche Kooperativen haben in Argentinien schon Tradition. Viele entstanden
während und nach der [2][schweren wirtschaftlichen und politischen Krise],
die das Land vor 20 Jahren durchlebte. Fünf Staatspräsidenten gaben sich
innerhalb von zehn Tagen die Klinke in die Hand. Auf der Plaza de Mayo vor
dem Präsidentenpalast tobte der Straßenkampf. Argentinien drohte im Chaos
zu versinken.
Viele Firmeneigentümer machten sich über Nacht aus dem Staub. Meist hängten
sie nur einen Zettel ans Werkstor, der die Beschäftigen über die sofortige
Schließung informierte. Etliche von diesen hatten schon vorher monatelang
keinen Lohn mehr bekommen. Um ihr Geld einzufordern, hielten sie Wache vor
den Werkstoren und hinderten nächtliche Räumkommandos daran, heimlich
Maschinen und Fabrikanlagen abzutransportieren. Später besetzten sie die
Werksgelände.
„Als wir 2001 anfingen, hatten wir nicht mal einen Namen dafür“, erinnert
sich Luis Caro, Vorsitzender des Movimiento Nacional de Fábricas
Recuperadas por sus Trabajadores. [3][Aber bald etablierte sich der Name
„Wiedererlangte Fabriken“]. „Es ging nicht um eine Revolution. Es ging
schlicht um die Rettung der Arbeitsplätze und der Familieneinkommen“, sagt
Caro, der auf Insolvenzrecht spezialisierter Anwalt ist.
## Vor allem Industrie- und Gastrobetriebe
Wie viele Betriebe auf diese Weise im Laufe der zwei Jahrzehnte
wiedererlangt wurden, komme auf die Definition an, sagt er. Fabrik werde
oft mit Industrie gleichgesetzt. Dann wären es aktuell 200. Erweitert man
die Bandbreite auf Gastronomie, sind schon rund 350 Kooperativen mit etwa
30.000 Beschäftigten. Volkswirtschaftlich von überschaubarer Bedeutung.
„Aber heute ist es ein tragfähiges Modell und für die Beschäftigen oftmals
die einzige Alternative zum Verschwinden ihres Betriebes und
Arbeitsplatzes“, so Caro.
Farmacoop ist eines der jüngsten Beispiele. „Wir haben damals in einem Zelt
vor dem Werkstor Wache gehalten“, berichtet Edith Pereyra, die heute die
Produktion leitet. Übernehmen konnten die Beschäftigten das Unternehmen nur
als Kooperative. Sie bestimmten einen Vorsitzenden sowie ein
Leitungsgremium. „Dem Gesetz ist damit genüge getan, alle Entscheidungen
treffen wir basisdemokratisch auf der Mitgliederversammlung“, sagt Pereyra.
Eigentümerin des Unternehmens ist die Kooperative nicht. Aber sie hat die
Nutzungsrechte am Firmengelände mit allem, was darauf steht. Und sie
besitzt die Marken- und Produktrechte der ehemaligen Roux-Ocefa.
„Es war eine emotionale Achterbahnfahrt, als wir das erste Mal wieder das
Werksgelände betraten,“ so Pereyra. Vieles war zerstört, Maschinen fehlten.
Monate dauerte die Instandsetzung der Anlagen, ohne Finanzmittel und ohne
Lohnzahlungen.
## Corona bremste nur vorübergehend
Heute hat die Farmacoop etwas über 100 Mitglieder. Alle erhalten den
gleichen Lohn, auch wenn das derzeit nur knapp 100 Euro im Monat sind. Dazu
kommen 100 Euro Soziallohn, den das Ministerium für soziale Entwicklung den
Mitgliedern aller Kooperativen zahlt.
Nicht leicht ist es, Pharmazeut*innen und Chemiker*innen davon zu
überzeugen, in einem wiedererlangten Betrieb zu arbeiten – aber ohne
Fachleute gibt es keine Zulassung durch die Arzneimittelbehörde. „Der
Abnahmetermin stand bereits fest – doch dann begann die Pandemie, seither
liegt das auf Eis“, so Pereyra.
„Vor 20 Jahren wollten wir eine politische Bewegung sein und eigene
Kandidaten bei Wahlen aufstellen“, sagt Luis Caro. Im Rückblick sagt er,
das sei für eine sozial-ökonomische Basisbewegung nicht der richtige Weg.
Viele Betriebe, die sich auf der Suche nach Subventionen an
Regierungsfunktionäre, Parteien oder Gewerkschaften anlehnten, haben sich
in den politischen Interessenkämpfen aufgerieben. Betriebe, die sich der
Konkurrenz auf dem Markt stellen und sich um Verkauf und Marketing ihrer
Produkte kümmern, entwickelten sich besser.
Und noch ein Phänomen zeigt sich immer wieder: „Zu Beginn sind es
ausschließlich die Beschäftigten aus der Produktion, die die Betriebe
wieder flottmachen“, so Caro. Weniger die Beschäftigten aus Verwaltung,
Marketing und Produktentwicklung. „Die größte Herausforderung aber ist der
Wechsel aus dem System der abhängigen Beschäftigung in ein System der
freien Beschäftigung.“
Bei Farmacoop haben sie diesen Wechsel vollzogen. Anstatt wegen des Virus
zu resignieren, nahmen sie die Herausforderung an. Desinfektionsmittel
wurden plötzlich knapp – sie bauten eine Fertigungslinie auf. Im April 2020
gingen sie mit einer eigenen Marke auf den Markt. Coronatests wurden
gebraucht – seit Januar produzieren sie den Schnelltest.
Das Ziel ist jedoch weiterhin die Herstellung von Medikamenten. „Sobald wir
die Zulassung der Arzneimittelbehörde haben, sind wir weltweit das erste
wiedererlangte Pharmaunternehmen, das Arzneimittel herstellt“, sagt
Pereyra.
21 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Jürgen Vogt
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