# taz.de -- Die Wahrheit: Idyllischer Kontinent | |
> Tagebuch einer Löscherin: Nach den Öffnungsorgien der letzten Tage ist | |
> die Zeit der Selbstoptimierung während der Pandemie vorbei. | |
Wie ein Kleinkind bei der Erforschung der Welt feiere ich derzeit | |
begeistert die Neuentdeckung der Berliner Kulturstätten. Vor ein paar Tagen | |
erwanderte ich mit einer Freundin aufgeregt eine – selbstverständlich | |
immersive – Ausstellung. Wir strahlten das Wache schiebende Museumspersonal | |
so hemmungslos an, dass es uns für bekifft hielt. Dabei konnten wir nur | |
unser Glück nicht fassen, in echt da rumzulaufen. | |
Es folgte das „Pre-Opening“ einer Fotogalerie, gefühlte hundert Mal fiel | |
das Wort „endlich!“, und weil wir uns noch nicht trauten, uns gegenseitig | |
in die Arme zu fallen, hüpften wir vor Wiedersehensfreude ersatzweise auf | |
der Stelle und bekleckerten uns mit Wein. Als Höhepunkt der allgemeinen | |
Öffnungsorgien durfte ich dann bei einem Pilotprojekt einem Haufen | |
herrlicher Schauspieler und der unvergleichlichen Sophie Rois in einem | |
veritablen Theater zujubeln. Nach all der vorangegangenen Schnelltesterei | |
sind die Nasenflügel inzwischen wund gescheuert, und auch sonst ist man ja | |
nichts mehr gewöhnt, jedenfalls zeige ich bereits nach einer Woche erste | |
Schwächen. | |
Gezählt die Tage, an denen man nirgends dabei sein musste und stattdessen | |
lange verschobene Projekte der Selbstoptimierung in Angriff nehmen konnte. | |
Erst sechs Wochen ist es her, dass ich beschlossen hatte, meine | |
Computerfestplatte zu entrümpeln! Ich musste nur entscheiden, ob ich mit | |
den siebenundneunzigtausend Mails oder den fünfundvierzigtausend Fotos oder | |
den eintausendfünfhundert Videos anfange. | |
Die Wahl fiel auf die Mails. Die älteste datierte vom Juli 2007, und statt | |
der Löschtaste siegte natürlich die Neugier. Schon war ich buchstäblich auf | |
einem anderen Kontinent und mitten im schönsten Nachbarschaftskampf. Keine | |
Ahnung, wie ich auf der Adressatenliste gelandet war, aber es ging um eine | |
Petition gegen die Ansiedlung eines eher harmlosen Supermarkts in einem | |
ziemlich kleinen Ort auf Long Island, bekannt für sein erhebliche Dichte an | |
sogenannten Kreativen, darunter viele Schriftsteller. | |
Die 32 Adressaten waren unverdeckt beschickt worden und feuerten im | |
Minutentakt aus allen Rohren messerscharfe Mails über die „Reply | |
All“-Funktion; verfeindete Parteien führten wilde Debatten über Fluch und | |
Segen des Kapitalismus und kämpften um eine Dorfidylle, die längst unter | |
Ralph-Lauren-Boutiquen und Maklerbüros begraben war; die Schlacht gipfelte | |
in der Schmähung eines Kontrahenten als „progressive fascist“. Nimm das | |
Schurke! Ach, hohe Kunst der Beleidigung, am Ende haut immer irgendeiner | |
den Faschisten raus. | |
Hätte ich meine Momentaufnahmen aus einem anderen Leben unbarmherzig | |
vernichtet, wären die Archive um Dokumente aus der Frühzeit einer | |
amerikanischen Wutbürgerdebatte gebracht worden. In stillen Stunden | |
durchforste ich jetzt das Laptop nach exotischen Nachrichten und lasse das | |
Mail-Biotop wuchern. Wer weiß, was da noch alles schlummert. | |
3 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Pia Frankenberg | |
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