# taz.de -- Ruderin Sedlmayr nach Bleivergiftung: Nur das Vorwärtskommen zählt | |
> Die Para-Ruderin Amalia Sedlmayr musste sich ihre Füße amputieren lassen. | |
> Neun Monate später will sie sich für die Paralympischen Spiele | |
> qualifizieren. | |
Bild: Das Rudern gibt ihr Halt: Sedlmayr im Boot vorne mit Marcus Klemp | |
Den ganzen Tag auf ihren zwei neuen Füßen laufen, das kann Amalia Sedlmayr | |
noch nicht. Aber sie kann wieder laufen. Und, mindestens genauso wichtig, | |
sie kann wieder schlafen und rudern. Und somit von einer Teilnahme an den | |
Paralympischen Spielen im Sommer in Tokio träumen. Die Amputation ist | |
gerade einmal gut neun Monate her und die Stümpfe sind noch sehr | |
empfindlich. Aber die 29-jährige Sportstudentin und Para-Ruderin aus Köln | |
ist so „glücklich und zufrieden“ wie lange nicht mehr. Sie hat sich von | |
ihren Füßen getrennt, hat sie gegen Prothesen eingetauscht. Und dafür eine | |
Portion Lebensqualität zurückbekommen. | |
Die sportliche Geschichte der Amalia Sedlmayr ist ein rasantes Märchen. | |
2019 entdeckte die ehemalige Triathletin das Para-Rudern, nachdem [1][der | |
Orthopädietechnikmeister Markus Rehm] – zugleich der weltbeste | |
Prothesen-Weitspringer und dreimaliger Paralympicssieger – ihr erzählt | |
hatte, dass beim RTHC Bayer Leverkusen nach jungen, athletischen Frauen mit | |
einer Einschränkung und Interesse am Rudern gesucht wurde. | |
Wer dieser Markus war, der ihr das Rudern nahelegte, realisierte Sedlmayr | |
nicht direkt. Aber die Idee, ins Ruderboot zu steigen, gefiel ihr auf | |
Anhieb. Wasser ist ihr Element, ist es schon immer gewesen. Triathlon ging | |
nicht mehr, seit sie nur knapp eine unbewusst selbst herbeigeführte | |
chronische Bleivergiftung überlebte. Das Schwermetall, das sich über | |
zweieinhalb Jahre in den Zellen ihres Körpers angereichert hatte, hat so | |
einiges lahm gelegt, unter anderem ihre Füße. Deshalb wurde sie in einem | |
Leverkusener Sanitätshaus mit Schienen versorgt – und traf auf Rehm. | |
Dann ging alles ganz schnell: Mitte April 2019 saß Amalia Sedlmayr zum | |
ersten Mal im Boot. Ende Mai fuhr sie ihre erste Regatta. Ende Juni setzte | |
sie sich in einem Ausscheid um den Platz im | |
Nationalmannschafts-Doppelzweier durch. Mit einer Bootslänge Vorsprung. | |
„Dann ging es so richtig los“, sagt Sedlmayr. Mit Marcus Klemp startete sie | |
bei der WM 2019, das Duo kam auf Platz drei im B-Finale. Das reichte nicht | |
für die Tokio-Qualifikation, aber Sedlmayrs Begeisterung und ihr Ehrgeiz | |
waren geweckt. Die paralympische Saison 2020 ging sie mit Leopold Reimann | |
im Zweier an. „Aber dann kam Corona und alle Träume waren erst mal | |
stillgelegt“, erinnert sie sich. | |
## Langfristig angelegtes Projekt | |
Ihr Trainer in Leverkusen ist Ralf Müller. Ein alter Hase im Rudergeschäft, | |
seit 30 Jahren leitet der 62-Jährige aus Overath Athleten an Skulls und | |
Riemen an und führte einige bis zu Olympischen Spielen. Das Para-Rudern ist | |
neu für ihn, eine zusätzliche Aufgabe. Weil Athleten mit Beeinträchtigung | |
Interesse bekundeten, habe es geheißen: „Müller, beschäftige dich mal | |
damit.“ So erzählt es der Coach. Seine Idee: „Das geht nur inklusiv, die | |
machen dasselbe Training wie meine anderen Sportler, es gehen alle | |
gemeinsam aufs Wasser, in den Kraftraum, aufs Ruderergometer.“ | |
Es funktioniert. Jüngst wurde das Trainingszentrum des RTHC am Fühlinger | |
See zum Landesleistungszentrum im Para-Rudern erklärt. „Es freut uns, dass | |
hier jetzt so die Post abgeht“, sagt Müller. Die Arbeit mit einer Athletin | |
wie Amalia Sedlmayr sieht Müller als Herausforderung. Ihre Schmerzen, die | |
Begleiterscheinungen ihrer Vergiftung, die Amputation ihrer Füße, das seien | |
„natürlich alles Dinge, von denen ich erstmal keine Ahnung hatte“. Müller | |
lernt jeden Tag dazu, und das gern. „Amalia ist superintelligent, | |
superehrgeizig, sie ist so gern da draußen auf dem Wasser und trainiert | |
richtig viel.“ | |
Ihre Chancen für Tokio sieht Müller bei „50:50“, Anfang Juni steht im | |
italienischen Gavirate die Qualifikation auf dem Plan. Müller denkt aber | |
schon weiter: „Unser Projekt ist langfristig angelegt, wir trainieren für | |
Paris 2024.“ Und über weitere Interessierte würde er sich freuen, es ist | |
noch Platz in seinem neuen Para-Ruderteam. | |
Die Krankengeschichte der Amalia Sedlmayr ist eine Tragödie mit Happy End. | |
Im Dezember 2013 fühlte sie sich plötzlich häufig schlapp. Sie war 21 Jahre | |
alt, studierte in Heidelberg Übersetzungswissenschaften, war aktive | |
Triathletin und ein helles Köpfchen, das die Unikurse in doppeltem Tempo | |
absolvierte. Die Ärzte waren ratlos, und die Symptome wurden immer | |
schlimmer. Zweieinhalb Jahre später hatte sie eine Leberfunktionsstörung, | |
ein geschädigtes Rückenmark, neurologische Ausfälle in den Beinen, so dass | |
sie auf den Rollstuhl angewiesen war, Konzentrations- und | |
Wortfindungsstörungen – und niemand wusste, wieso. | |
## Lebensrettende Idee | |
Im Frühjahr 2016 ging es ihr so schlecht, dass sie zwangsläufig wieder ins | |
Krankenhaus ging, obwohl sie die Nase mehr als voll hatte von Kliniken. | |
„Ich rief meine Mutter an und bat sie zu kommen. Ich hatte Angst, dass ich | |
sterbe. Und dass ich ihr nicht mehr sagen kann, dass ich sie liebe“, | |
erinnert sich Sedlmayr. Hätte damals im Krankenhaus in Heidelberg ein | |
junger Assistenzarzt, der zum ersten Mal von ihrer Krankgengeschichte | |
hörte, nicht einen Bluttest auf Schwermetalle veranlasst, wäre Sedlmayr | |
daran gestorben. | |
So aber stellte sich nach zweieinhalb Jahren endlich heraus, dass sie an | |
einer chronischen Bleivergiftung litt – die sie selbst unbewusst verursacht | |
hatte. Sie hatte einen silbernen Fisch, den sie auf einem Flohmarkt | |
erstanden hatte, in ihre Karaffe gelegt. Dass dieser Fisch aus Blei war, | |
wusste Sedlmayr nicht. Und so trank sie tagtäglich vergiftetes Wasser. | |
Seit der Diagnose wird versucht, das Blei mithilfe von Medikamenten aus | |
Sedlmayrs Körper zu lösen. Viel ist geschafft, aber einige Schädigungen | |
waren nicht mehr rückgängig zu machen. Etwa die in den Füßen. Sedlmayr | |
lernte, mit Hilfe von Schienen wieder zu laufen, hatte aber beständig | |
Schmerzen. So schlimm, dass sie nachts kaum länger als drei Stunden | |
schlief. Sie wechselte vom Studium der Übersetzungswissenschaften in | |
Heidelberg zum Sportstudium in Köln. „Ich hätte als Übersetzerin keine | |
Chance gehabt, weil ich nicht mehr so schnell gewesen wäre wie die | |
Konkurrenz“, sagt sie. | |
[2][Das Rudern gibt ihr Halt.] „Sport war schon immer mein Anker“, sagt | |
Sedlmayr: „Sich bewegen, den Kopf abschalten, den Körper spüren, das hilft | |
mir.“ Doch sie trainierte bislang unter erschwerten Bedingungen. Wegen der | |
Schmerzen und des daraus resultierenden Schlafmangels. „Mit drei Stunden | |
Schlaf kommt man ja schon normalerweise kaum aus – aber wie soll man da | |
noch ein Leistungstraining absolvieren? Ich habe das lange Monate versucht, | |
aber ich war an meiner Grenze.“ | |
Und so kam Sedlmayr zu dem Schluss, dass die Amputation ihrer Füße ihr | |
helfen würde: „Ich war nicht erschrocken von dieser Möglichkeit, sondern | |
habe sie als Lösung gesehen.“ Mit Prothesen hätte sie funktionsfähigere | |
Füße als die eigenen, von Lähmung und Spastik betroffenen. Und durch den | |
Para-Sport hatte sie genügend Menschen kennengelernt, die sehr gut mit | |
Prothesen zurechtkommen. | |
## Die beste Lösung | |
Sie wollte die Operation nach [3][den Paralympischen Spielen von Tokio] | |
machen lassen. Aber als die verschoben wurden, konnte sie nicht länger auf | |
eine Änderung warten. „Ich wusste, dass ich nicht nochmal anderthalb Jahre | |
mit den Schmerzen schaffe“, sagt sie. | |
Am 27. Juli 2020 war es dann so weit, ihr wurden beide Füße abgenommen. | |
„Ich habe sehr aufmerksam versucht, die beste Lösung zu finden. Nachdem ich | |
einmal nicht achtsam gewesen war und diesen Fisch ins Wasser gelegt hatte, | |
wollte ich jetzt die bestmögliche Entscheidung für mein Leben treffen“, | |
sagt Sedlmayr. | |
Als sie nach der Operation wieder zu sich kam, war einer ihrer ersten | |
Sätze: „Dann kann das Training für Tokio ja jetzt beginnen.“ Sedlmayr | |
erinnert sich nicht daran. Aber so hat es ihr die Schwester im Aufwachraum | |
erzählt. | |
Heute, gut acht Monate nach der Operation, kann sie wieder schlafen. | |
„Allein das ist wie ein Sechser im Lotto für mich“, sagt Sedlmayr. Noch | |
quält sie das Dilemma, dass die Belastungsfähigkeit ihrer Stümpfe nicht | |
ausreicht, um beides gleichzeitig, das Leistungsrudern und das Laufenlernen | |
auf Prothesen, mit Hochdruck voranzutreiben. An Tagen, an denen sie rudert, | |
kann sie nicht Laufen lernen – und andersherum. Ihre Beine brauchen immer | |
wieder Pausen. Die Fachleute an ihrer Seite arbeiten zurzeit an einem Sitz, | |
der ihr das Rudern ohne Belastung der Stümpfe ermöglicht. Denn ihre Arme, | |
ihr Rumpf, ihr Kopf sind stark. Der Traum von Tokio setzt Kräfte frei. | |
Amalia Sedlmayr könnte in Selbstmitleid versinken. Sie könnte sich Vorwürfe | |
machen, den kleinen Fisch verfluchen oder ihre eigene Unbedachtheit. „Aber | |
das bringt nichts, dann komme ich nicht vorwärts“, sagt sie: „Es ist das | |
Wesen eines Sportlers, sich immer weiter optimieren zu wollen. Genau das | |
versuche ich.“ | |
Und sie hofft, dass der junge Assistenzarzt aus Heidelberg, der vor fünf | |
Jahren ihr Blut auf Schwermetalle untersuchen ließ und ihr Leben rettete, | |
dessen Namen sie nicht kennt und den sie nie wiedergesehen hat, von ihrer | |
Geschichte erfährt. Dass er sich erinnert „und sich ein bisschen freut“. | |
19 May 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Paralympic-Sportler-Rehm-ueber-Olympia/!5747332 | |
[2] /Ruderin-ueber-Atlantikueberquerung/!5657737 | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Sommer-Paralympics_2020 | |
## AUTOREN | |
Susanne Rohlfing | |
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