# taz.de -- Comeback der Popband No Angels: Die Engel singen wieder | |
> Vor 20 Jahren brachte die Castingshow „Popstars“ als erste Band die No | |
> Angels hervor. Nun ist die Girlgroup mit einem neuen Album zurück. | |
Bild: Die No Angels auf dem Happy Family Festival | |
Man muss den Song nicht mal mehr hören, um ihn für den Rest des Tages im | |
Ohr zu haben: „I wanna be daylight in your eyeeeees / I wanna be sunlight, | |
only warmer …“ [1][Im Video] sieht man fünf junge Frauen, Vanessa Petruo, | |
Nadja Benaissa, Lucy Diakovska, Jessica Wahls und Sandy Mölling, in | |
koordinierten, knappen Glitzeroutfits singen, tanzen und aus irgendeinem | |
Grund vor einer Bodenkamera herumkrabbeln. | |
Und trotzdem, oder gerade deswegen, war es natürlich das Coolste, was sich | |
eine Zwölfjährige vorstellen konnte: Die Frauen wirkten so erwachsen, so | |
lässig, sie strahlten Lebensfreude aus und boten endlose | |
Identifikationsfläche – jede Zuschauerin konnte sich in einer der fünf | |
wiederfinden wie einige Jahre zuvor schon bei den Spice Girls, die das | |
Spiel mit den Archetypen schon in den Neunzigern perfektioniert hatten. | |
Mit dem Unterschied, dass die „Daylight“-Sängerinnen nicht nur die eigene | |
Sprache sprechen konnten, nein, man hatte ihrem Aufstieg auch minutiös von | |
der ersten Sekunde an folgen können. Sie waren die „Popstars“, die die | |
erste Staffel der gleichnamigen Castingshow hervorbringen sollte. | |
In fünfzehn Folgen, ausgestrahlt ab September 2000 auf dem Krawallsender | |
RTL II, konnte man den Aufstieg der Künstlerinnen verfolgen. In einer | |
der ersten Folgen ist die Kamera frontal auf die junge Vanessa Petruo | |
gerichtet: „Was unterscheidet dich von anderen Mädels?“, fragt eine Stimme | |
aus dem Off. „Gar nichts, ich bin ganz normal“, antwortet die schüchtern | |
wirkende 20-Jährige. Nur wenige Wochen später sollten sie und die anderen | |
vier Frauen tatsächlich [2][zu den größten Popstars gehören], die dieses | |
Land womöglich jemals hervorgebracht hat. | |
## Eine charmante Unbedarftheit | |
Und vielleicht ist diese Szene, dieses „ganz normal“, schon gleich der | |
Schlüsselmoment, der den unglaublichen Erfolg der fünf Frauen, die als No | |
Angels Musikgeschichte schreiben sollten, beschreibt. Petruo und ihre | |
Bandkolleginnen waren alle zwischen 18 und 24, in Ausbildung oder in ihren | |
ersten Jobs, sie wirkten nicht nur wie die Mädchen von nebenan, sie waren | |
tatsächlich die Mädchen von nebenan – die sich aber gegen viertausend | |
andere Bewerberinnen durchsetzten, um dann als No Angels zur | |
erfolgreichsten Girlgroup Kontinentaleuropas aufzusteigen. | |
Schaut man heute die Folgen von damals an, fällt eine geradezu charmante | |
Unbedarftheit auf: nicht nur der Künstlerinnen, die sich dort bewarben, | |
sondern auch des gesamten Teams. das „Popstars-Camp“ auf Mallorca, wo die | |
Bewerberinnen in Tanz und Gesang gedrillt wurden, wirkt provisorisch | |
zusammengezimmert, teilweise kann man im Hintergrund neugierige Nachbarn | |
das Treiben beobachten sehen. | |
Nebencharaktere wie der Gesangslehrer Robert aus England oder auch die | |
Jury, bestehend aus der niederländischen Sängerin Simone Angel und den | |
Künstlermanagern Mario Mendryzcki und Rainer Moslener, waren | |
augenscheinlich nicht auf Starpotenzial hin gecastet worden, abgesehen | |
natürlich von Tanzlehrer Detlef „D!“ Soost, der später zur zentralen Figur | |
des Formats aufsteigen sollte. | |
## No Angels zeigen Diversität als normalen Fakt | |
Vor allem aber herrschte eine nette und im Vergleich zu den Castingshows | |
der folgenden Jahre geradezu wertschätzende Atmosphäre. Schon im Jahr | |
darauf sollte Noah Sow beispielsweise ihren Platz als Jurymitglied mitten | |
in einer Staffel räumen, weil sie nicht Teil der menschenverachtenden | |
Maschinerie der Show sein wollte, in späteren Konkurrenzformaten machte | |
Dieter Bohlens Pöbeleien zu seinem Markenzeichen, Heidi Klum stellt in | |
„[3][Germany’s Next Topmodel]“ Drill über Empathie. | |
Doch in der ersten Staffel „Popstars“ war all das noch fern, niemand konnte | |
ahnen, welche Ausmaße der Erfolg der No Angels annehmen würde. Und | |
vielleicht ermöglichte dieses Unwissen auch Dinge, die sonst vielleicht | |
nicht möglich gewesen wären. | |
Da wäre die Diversität der Band, Diakovska war erst fünf Jahre zuvor nach | |
Deutschland migriert und lesbisch, Wahls und Benaissa sind Schwarze Frauen, | |
und die Mutter von Petruo (heute Petruo-Zink) stammt aus Lateinamerika. Ein | |
Thema war das jedoch nie, und ihre familiären Hintergründe wurden zumindest | |
innerhalb der Show nicht in den Vordergrund gestellt oder gar | |
ausgeschlachtet. | |
Im Gegenteil, in den No Angels zeigte sich die Diversität der | |
Vielfaltsgesellschaft als normaler Fakt. Damit erreichten sie wohl mehr für | |
Gleichberechtigung als so manche hochoffizielle Kampagne. | |
Außerdem erkämpften sich die Künstlerinnen, wie sie auch im Podcast zu | |
ihrem 20-jährigen Bandjubiläum erzählen, Mitspracherecht: Sie pochten | |
darauf, dass „Daylight“ als erste Single veröffentlicht werden sollte und | |
nicht das in der Sendung promotete „Go Ahead and Take It“. Als Leadsingle | |
des zweiten Albums diente dann sogar „Something About Us“, ein von Petruo | |
mitgeschriebener Song, der selbstbewusst das Klischee der „Retortenband“ | |
kontert. | |
Man muss sich vergegenwärtigen, in welcher Zeit das alles passierte. Zwar | |
war das neue Jahrtausend gerade erst angebrochen, doch die hedonistischen | |
Neunziger und die Umbrüche des ausgehenden 20. Jahrhunderts hallten noch | |
nach. Das „Ende der Geschichte“, wie es Politikwissenschaftler Francis | |
Fukuyama 1989 unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der UdSSR verkündet | |
hatte, schien Wirklichkeit zu sein. | |
## Die No Angels erinnern an die Zeit vor der Pandemie | |
Zwar platzte im März 2000 die Spekulationsblase, doch im Autobauerland | |
Deutschland galt das alles noch vor allem als Nischenphänomen, wenn | |
halbseidene Unternehmer*innen unbedarfte Kleinanleger über den Tisch | |
zogen. | |
Abgesehen davon war es eine Zeit nie dagewesener Prosperität und vor allem | |
vermeintlicher Sicherheit – selbst der Bundeswehreinsatz im Kosovo wirkte | |
von Deutschland aus sehr weit weg. Erst knapp ein Jahr später, im September | |
2001, sollten die Terroranschläge in New York den globalen Westen aus dem | |
süßen Schlummer reißen. | |
Aber zu diesem Zeitpunkt waren „Daylight“, das Album „Elle’Ments“ und… | |
weitere Singles längst veröffentlicht, und die No Angels hatten sich in der | |
öffentlichen Wahrnehmung längst konsolidiert. Was auch an ihrem | |
Arbeitspensum lag, wie sie es [4][in ihrem Podcast] anklingen lassen: | |
wenig Freizeit, endlose Promotouren. | |
Für das Publikum waren diese Aspekte jedoch unsichtbar, und so ist es kein | |
Wunder, dass die Rückkehr der alten Alben der No Angels auf die | |
Streamingportale letztes Jahr für Begeisterung und einen erneuten Hype um | |
die Mutter aller deutschen Castingbands führte. | |
Die No Angels symbolisieren eine Zeit, in der noch alles halbwegs in | |
Ordnung war, eine Zeit vor Hartz IV, vor Dauerwerbesendung auf Instagram, | |
eine Zeit vor Dauerkrisen und Wirtschaftskatastrophen. Und vor allem: eine | |
Zeit vor einer Pandemie, die die individuelle und kollektive Verunsicherung | |
in jedem Lebensbereich auf die Spitze trieb. „Die Welle der Begeisterung | |
zur Wiederveröffentlichung des Katalogs hat gezeigt, dass die Songs von | |
damals auch heute noch eine kulturelle Relevanz haben. | |
Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Songs zeitlos sind und schon | |
damals auf internationalem Niveau produziert wurden. Aber vor allem | |
verbinden die Fans zahllose Erinnerungen mit der Musik der No Angels, an | |
die wir besonders in Krisenzeiten natürlich gern zurückdenken“, erzählt | |
Feline Moje vom Plattenlabel BMG, die federführend daran gearbeitet hat, | |
die Songs, die vom ausländischen Rechteinhaber einfach vergessen worden | |
waren, wieder zugänglich zu machen. | |
## Die exaltierte Freude fehlt | |
Genau daran soll nun „20“ anknüpfen: Mölling, Wahls, Diakovska und Benais… | |
haben sich wieder zusammengetan – Petruo hat sich aus der Öffentlichkeit | |
zurückgezogen und arbeitet in Los Angeles als Wissenschaftlerin –, um | |
sechzehn ihrer größten Hits neu und „zeitgemäßer“ aufzunehmen; plus vier | |
neu geschriebene Songs, die vielleicht eine Tür zu einem potenziellen | |
Comeback öffnen sollen. | |
Vorab veröffentlicht wurde schon die neue Version von „Daylight“, und wie | |
zu erwarten sind die Bässe fetter, die Stimmen reifer und voller, die | |
Komposition ausgefeilter. Aber es fehlt ein zentrales Element: die | |
exaltierte Freude, die ungeschliffene Begeisterung, die das Publikum so | |
mitrissen, eben weil zwischen Band und Publikum kaum ein Unterschied zu | |
bestehen schien. | |
Die neuen Songs setzen schon mit ihren Titeln fast ausschließlich auf | |
dieses Nostalgiegefühl: „We Keep the Spirit Alive“, „Mad Wild“, „A N… | |
Day“ und „Love You for Eternity“, und sie könnten vom Sound her genauso … | |
aus dem übrigen Œuvre stammen. Aber reicht Nostalgie allein, gerade wenn | |
die Pandemie langsam ihrem Ende entgegengeht? Unklar. Bis dahin aber | |
stimmen wir alle mit ein: „I wanna be Dayliiiiiiiight …“ | |
3 Jun 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=7aJYK3PnWqU | |
[2] /No-Angels-auf-Spotify-streamen/!5729502 | |
[3] /Wandel-bei-Miss-Wahlen/!5751345 | |
[4] https://audionow.de/podcast/6be6b618-0adc-4dcd-a2ec-485bc678acb3 | |
## AUTOREN | |
Aida Baghernejad | |
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