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# taz.de -- 50 Jahre „Polizeiruf 110“: Mehr Realität wagen
> Zum runden Geburtstag macht eine neue ostdeutsche „Polizeiruf“-Filiale
> auf. Die in der DDR konzipierte Reihe hilft, die mediale Teilung zu
> überwinden.
Bild: Dorfpolizist Horst Krause ermittelt mit Dettmann und Lansky (Otto und Soh…
Es ist ein dunkler Winterabend, als der Schriftsteller Clemens Meyer in
Halle an der Ufermauer der Saale steht und sagt: „Die war früher schwarz
wie die Nacht und hat gestunken, und dreiköpfige Fische schwammen drin
rum.“ Neben ihm der Schauspieler Peter Schneider, sie sind losgezogen für
eine Doku über den neuen Film, an dem sie gerade arbeiten.
Meyer, gebürtiger Hallenser, erzählt meistens Geschichten über die Nacht in
seinen preisgekrönten Romanen und Kurzgeschichten. Und diesmal auch in
einer neuen „Polizeiruf“-Folge. Zusammen mit dem Leipziger Thomas Stuber,
der auch Regie führte, schrieb er „An der Saale hellem Strande“ – als
Auftakt für ein neues Ermittlerteam. Henry Koitzsch (Peter Kurth) und
Michael Lehmann (Schneider) übernehmen nun die Filiale, die seit dem
Abgang von Schmücke (Jaecki Schwarz) und Schneider (Wolfgang Winkler) lange
leer stand
Die Neuen läuten das Jubiläum ein: Seit 50 Jahren gibt es den „Polizeiruf
110“. Und falls bei manchen nun was klingelt: Im Prinzip lässt sich an
dieser Stelle [1][der Jubiläumstext zum 50. „Tatort“-Geburtstag von Ende
November fortschreiben.] Kurz zur Erinnerung: Die ARD meinte, eine
Pizzeria-Familie-Mafia-Geschichte wäre perfekt, um den Anlass zu feiern,
lobte sich dafür, dass die Reihe „Tatort“ „gesellschaftlich relevant“ …
Und beweist stattdessen seit Jahren, die knirschenden Stellen unserer
Gesellschaft und Exekutive nicht zu sehen, „berauscht von der eigenen
Tatortigkeit“.
Nun also noch ein Jubiläum – und diesmal ein Plädoyer: für mehr
„Polizeiruf“. „Er brachte einen echten Innovationsschub für den
gesamtdeutschen Krimi“, schreibt Volker Herres, bis Ende April
Programmdirektor Erstes Deutsches Fernsehen, im Vorwort des Pressehefts.
Wär’s mal nur so!
## Geschundene Stadt
Wieso der „Polizeiruf“ das Zeug dazu hat, zeigen die Gespräche zwischen
Meyer und Schneider in gleich zwei Jubiläumsdokus. Er wolle das „urbane
Halle, das industrielle Halle, das kleine Halle mit seinen verwinkelten
Häusern“ sichtbar machen, sagt Meyer. „Halle ist eine geschundene Stadt“,
sagt der neue Kommissardarsteller Thomas Schneider. Hohe
Arbeitslosenquoten, viele Wegzüge, zeitweise bundesweit am meisten
Leerstand. Über Menschen, „die es nicht so leicht haben“, sagt er noch,
müssten „viel, viel mehr“ Geschichten erzählt werden.
„Gesellschaftliche Relevanz“ ist anders als beim „Tatort“ der Kern des
„Polizeirufs“, auch jenseits der DDR-Propaganda-Agenda. Unübersehbar für
alle, die sich hintereinander noch mal anderthalb Dutzend Folgen anschauen:
ganz alte, kurz vor 1989, aus der Nachwendezeit, den nuller Jahren und dann
die aktuellsten.
Als Gründungsmoment wird gerne Erich Honeckers Lamento über „die bestimmte
Langeweile“ des Fernsehprogramms in seiner Rede 1971 auf dem VIII.
Parteitag der SED herausgekramt. Nur: Der Parteitag fand vom 15. bis 19.
Juni statt. Die erste Folge „Der Fall Lisa Murnau“, in der Oberleutnant
Peter Fuchs (Peter Borgelt) und Leutnant Vera Arndt (Sigrid Göhler)
erstmals einen Raub aufklären, lief schon am 27. Juni auf DFF 1.
Wahrscheinlich also eher: gut geplante PR. Schließlich kooperierte die
Hauptabteilung Kriminalität des Innenministeriums mit der
Fernsehdramaturgie – damit es genug Themen gäbe, echte Fälle, ausreichend
Informationen über Ermittlungsarbeit.
In der Forschung geht es etwa um die „sozialistische Partnerschaft“
zwischen Fernsehen und Polizei; bis zur Forderung, in Drehbüchern nicht
„Verhör“, sondern „Befragung“ zu schreiben, „Ermittlungsbericht“ s…
„Überwachungsbericht“. In den Aufsätzen, Büchern, Rückblicken ist viel …
Rede von der politischen Agenda: Die Geschichten sollten mahnen, die Moral
stärken, die die Republik so lange zusammenhielt. Die Bösen waren die
Arbeitsbummelanten, Menschen, die tranken, was Besseres sein wollten, vom
sozialistischen Weg abgekommen.
## Das Grunddilemma
Der Medienwissenschaftler Peter Hoff hat gleich zwei fette Bücher über die
Reihe geschrieben. „Mit Staunen“ habe er zur Kenntnis genommen, dass
ausgerechnet diese – neben dem „Sandmännchen“ – nach 1990 weiterlaufe.…
also anfangen mit diesem ‚Polizeiruf 110‘, der die Gesellschaftsordnung
überlebt hat, der er seine Existenz verdankt?“
Ja, was? Grunddilemma der Angelegenheit „Polizeiruf“ war ja: Wie
Kriminalität für Progapandazwecke darstellen, ohne zu behaupten, sie sei
normal? Drum war im „Polizeiruf“ Mord eher selten, es ging um geklaute
Lohntüten, vergiftete Pferde, Körperverletzung, Betrug, Selbstmord,
Trunkenheit, Vergewaltigung; und in der „Tatort“-„Polizeiruf“-Koprodukt…
„Unter Brüdern“ von 1990 um den kriminellen Kunsthandel der DDR mit dem
Westen, der bis heute nur in Ansätzen aufgeklärt ist. Vor allem aber: Die
Ermittlungsteams stehen nicht im Zentrum, in gestoppten Sendeminuten
verliert die Polizei, ist in den Filmen mehr vom normalen Leben zu sehen,
jenseits aller „Derrick“-Welt. Der Alltag der Nachtpförtner,
Werftarbeiterinnen, Bahngleisläufer, Postbeamtinnen, Automechaniker, die in
den Fall verwickelt sind, mal am Rande, mal zentral.
Dass es nun vier ostdeutsche Filialen gibt – was hoffentlich auch nach dem
Ausstieg von Lenski (Maria Simon) in Frankfurt/Oder und Bukow (Charly
Hübner) in Rostock so bleibt –, ist also das Mindeste. Und dass die
Mediatheken, Jubiläum sei Dank, voll sind mit alten Folgen, ist ein Segen.
Nicht nur, um die Nostalgiesparte der ARD zu füllen: Es wird Zeit, dass
Westdeutsche wissen, wer Peter Fuchs war, typisch mit einer Hand in der
Sakkotasche, wer Vera Arndt, Günter Beck (Günter Neumann) und Thomas Grawe
(Andreas Schmidt-Schaller); und überlegen, ob Lehmann, einer der Neuen in
Halle, ein bisschen was von Grawe hat, ob das Büro der Neuen das Büro der
Alten ist; wissen, dass es keine albernen „goldenen Regeln“ gab wie beim
„Tatort“, nach denen nach soundso viel Minuten ein Mord geschehen sein
muss.
## Wurschtige Westdeutsche
Und es sollte eben relevant für alle sein, wie und wieso die Saale und
andere ostdeutsche Gewässer viele Jahre rochen; zu wissen, dass Hallenser
die Bevölkerung meint und Hallore jene, die in den Salinen arbeiteten –
ohne Hallenser Kumpel zu fragen; die Referenzen zu kennen, Alltagssprache,
Dialekte, Inneneinrichtung, Popkultur wie die Zeichentrickserie „Nu Pagadi“
und den „Polizeiruf“-Vorgänger „Blaulicht“.
Der „Polizeiruf“ hat das Potenzial, ein weiterer Baustein zu sein, die
mediale Teilung zu überwinden, in der dieses Land immer noch festhängt.
Auch weil es vielen Westdeutschen zu lange zu wurscht war, mehr zu
erfahren. Wie dramatisch sich diese Schräglage in der Berichterstattung
niederschlägt, [2][hat die Otto Brenner Stiftung gerade ausführlich
erforscht.]
Einigen Programmverantwortlichen dämmert inzwischen, dass diese Lücken ein
Problem sind; dass es darum geht, Alltag zu erzählen, der Menschen nicht
als Abziehbilder zeigt, und den Erfahrungsschatz ostdeutscher Biografien
als gesamtdeutsch bereichernd zu begreifen. MDR-Intendantin Karola Wille
hat das früher als viele deutlich formuliert. Ein Miniformat wie die
„Mittendrin“-Folgen in den „Tagesthemen“ sind Zeichen dafür, dass sich
langsam etwas verändert; die selbstverständlich grenzüberschreitend
arbeitende polnisch-deutsche „Polizeiruf“-Filiale in Frankfurt/Oder und ein
zusätzliches Team in Ostdeutschland ebenfalls.
Vielleicht hört dann auch irgendwann jene hartnäckige Hierarchie auf. Der
„Polizeiruf“ habe „den Sprung“ ins gesamtdeutsche Programm „geschafft…
schreibt Karola Wille zum Jubiläum, die neue Zweigstelle zeige nun „zwei
ostdeutsche Originale“. Was wäre denn ein „westdeutsches Original“?
## Besser werden
Die Zahlen flankieren diese Schieflage. Die Fernsehzeitschrift Prisma
[3][hat alle ARD-Sonntagabendkrimis 2020 nach Zuschauern gelistet]; erst
auf Platz 18 und 19 zwei „Polizeirufe“ mit 8,8 Millionen Zuschauern, davor
und danach nur „Tatorte“. Das Jubiläumspresseheft dokumentiert 15
Auszeichnungen für „Polizeiruf“-Folgen seit 2015; ganze zehn (!) davon
gingen an BR-Filme. Beim „Tatort“ gibt es 15 Westteams, zwei im Ausland –
und zwei im Osten, Weimar, Dresden. Von den 48 „Tatort“-Ermittelnden sind
sieben ostdeutsch sozialisiert. Von den insgesamt nur neun
„Polizeiruf“-Hauptfiguren sind immerhin sieben in Ostdeutschland geboren.
Wie wenig die ARD dennoch begriffen hat, worum es geht, zeigt die Doku über
den „Polizeiruf“. Der 45-Minüter läuft Sonntagabend um 23.55 Uhr im Erste…
Es gibt davon aber auch eine Langfassung. Die 90-Minuten-Version strahlte
der MDR bereits am Wochenende zuvor aus, auf dem Hauptsendeplatz nach der
„Tagesschau“. Wie war das noch mal mit der Relevanz, ostdeutsche
Perspektiven und TV-Historie bundesweit sichtbar zu machen?
„Besser werden ist unbezahlte Arbeit“, [4][schrieb Lin Hierse diese Woche
in ihrer taz-Kolumne]. In diesem Sinne: Die Langdoku für den MDR steht in
der Mediathek. Und bis 30. 6. zeigen alle ARD- und Schwestersender knapp
120 „Polizeiruf“-Folgen von 1971 bis heute.
30 May 2021
## LINKS
[1] /50-Jahre-Tatort/!5729561
[2] /Presse-in-Ostdeutschland/!5756271
[3] https://www.prisma.de/news/Tatort-2020-die-Einschaltquoten-in-der-ARD-Muens…
[4] /Die-Sache-mit-der-Meinungsbildung/!5774188
## AUTOREN
Anne Haeming
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