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# taz.de -- Menschenrechte in Russland: Amnesty macht Rolle rückwärts
> Kremlkritiker Nawalny hat den Status „gewaltloser politischer Gefangener“
> zurückbekommen. Er hatte ihn wegen rassistischer Ausfälle verloren.
Bild: Protestaktion in Moskau für die Freilassung von Alexei Nawalny im April …
Berlin | taz Überraschende Kehrtwende: Die Menschenrechtsorganisation
Amnesty International (AI) hat dem russischen Kremlkritiker Alexei Nawalny
am Freitag den Status eines gewaltlosen politischen Gefangenen (Prisoner of
Conscience) zurückgegeben. Zuvor hatte die russische
Investigativ-Online-Plattform insider.ru gemeldet, dass ein derartiger
Schritt bevor stehe. Sie bezog sich dabei auf die Nachrichtenagentur
Reuters.
Diese hatte über einen Auftritt des Nalwalny-Mitarbeiters Leonid Wolkow vor
Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des kanadischen Unterhauses
berichtet. Dort hatte Wolkow gesagt, Amnesty werde am 12. Mai in einer
Presseerklärung darlegen, wie eine russische Desinformationskampagne
Amnesty habe beeinflussen können. „Amnesty wird Nawalny nicht nur den
Status zurück geben, sondern auch eine Fehleranalyse präsentieren“, wird
Wolkow zitiert.
Am Freitagnachmittag bestätigte das internationale AI-Sekretariat in
London, die „interne Entscheidung vom Februar, die nicht hätte öffentlich
werden sollen“, rückgängig zu machen. Der Gebrauch des Terminus Prisoner of
Conscience (was mit „gewaltloser politischer Gefangener“ nur unzureichend
ins Deutsche übersetzt ist; Anm. d. Red.) sei überdacht worden. Von diesem
Status solle keine Person allein aufgrund ihres Verhaltens in der
Vergangenheit ausgeschlossen werden. Meinungen und Verhaltensweisen könnten
sich mit der Zeit ändern, heißt es in der Erklärung.
Auch an mea culpa mangelt es nicht: „Amnesty hat eine falsche Entscheidung
getroffen, die unsere Absichten und Motive zu einem kritischen Zeitpunkt
infrage gestellt haben.“ Die Organisation entschuldige sich für die
negativen Auswirkungen, die das auf Alexei Nawalny persönlich sowie
Aktivist*innen in Russland und weltweit gehabt habe, die sich für
unermüdlich für Nawalnys Freiheit einsetzten, heißt es weiter.
## Sofortige Festnahme
Am 17. Januar 2021 war Nawalny nach einem monatelangen Aufenthalt in
Deutschland infolge einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok
nach Russland zurückgekehrt und unmittelbar nach seiner Ankunft
festgenommen und inhaftiert worden. Der Vorwurf lautete auf Verstoß gegen
Bewährungsauflagen, die sich auf eine Verurteilung im Jahre 2014 wegen
Betrugs des französischen Kosmetikherstellers Yves Rocher beziehen.
Fast zeitgleich hatte ihn Amnesty als „Prisoner of Conscience“ anerkannt.
Am 2. Februar entschied ein Moskauer Gericht, dass der 44-jährige eine
Haftstrafe von drei Jahren und fünf Monaten abzüglich bereits früher
abgesessener Arrest- und Haftstrafen, jetzt doch absitzen müsse.
Am 24. Februar war [1][Nawalny den AI-Status plötzlich los]. Begründet
worden war dieser Schritt mit einer Flut von Anfragen „besorgter
Bürger*innen“ zu xenophoben Kommentaren Nawalnys, die dieser in der
Vergangenheit gemacht, aber nie zurückgenommen habe. Dabei geht es AI unter
anderem um ein 15 Jahre altes Video, in dem Nawalny Migranten als
„Kakerlaken“ verunglimpft. In einem anderen Video aus den frühen
Nullerjahren ist Nawalny in die Arbeitskluft eines Zahnarztes geschlüpft,
der, flankiert von Fotos mit ausländischen Arbeitskräften, dazu aufruft,
„alles, was uns lästig ist, wie verrottete Zähne zu entfernen“.
Offensichtlich schienen für so manche/n bei Amnesty Nawalnys rassistische
Ausfälle schwerer zu wiegen als die eindeutig politisch motivierte
Justizfarce, deren Opfer er ist. Gegenüber dieser Einschätzung wurden auch
interessante Fakten einfach ausgeblendet.
## „Besorgte Bürger*innen“
So hatten sich einige der „besorgten Bürger*innen“ im Fall Nawalnys bei
ihren Anfragen unter anderem auf Tweets der freien Journalistin Katja
Kazbek bezogen. Diese hatte die besagten Videos gepostet und Nawalny als
„bekennenden Rassisten“ bezeichnet, dessen Anhänger ihn von seinen
Nationalismus „reinwaschen wollten“. Kazbek, deren Beträge häufig auf dem
kremlnahen Sender RT veröffentlicht werden, ist eine durchaus schillernde
Persönlichkeit.
Die selbsternannte Feministin und Sozialistin, die sich auch für die
Belange von Angehörigen der LGBTQ-Community interessiert, lebt in den USA
und das vor allem auf Kosten ihres millionenschweren Vaters Juri
Dubowitzki, wie insider.ru schreibt.
In einem ihrer Tweets beschreibt sie Josef Stalin als jemanden, der mehr
für die Menschheit getan habe als die Mehrheit bürgerlicher Politiker wie
George Washington, Thomas Jefferson und John F. Kennedy. Alexei Nawalny sei
von der US-Regierung kontrolliert, heißt es an anderer Stelle. Auch zu den
monatelangen Protesten in Belarus hatte sie Eigentümliches beizutragen.
Diese habe der Westen organisiert – mit dem Ziel, eine „farbige Revolution�…
zu provozieren.
Bereits kurz nach der AI-Entscheidung im Februar schien so manchem zu
dämmern, Amnesty könne „Opfer“ einer generalstabsmäßig organisierten und
vom Kreml gesteuerten Desinformationskampagne geworden sein. Bereits damals
sei ob der Art der Anfragen an eine koordinierte und böswillige Aktion
gedacht worden. Diejenigen, die dahinter stünden, hätten damit ins Schwarze
getroffen, zitiert insider.ru Aleksandr Artjomow, AI-Medienbeauftragter für
Osteuropa und Zentralasien. Bei Amnesty sei offenbar die Erkenntnis
gereift, zur Geisel eigener Prinzipien geworden zu sein, so insider.ru.
## Internationale Ermittlungen
Der jetzige Sinneswandel könnte jedoch auch der neuen
Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard geschuldet sein, die seit März
dieses Jahres im Amt ist. Als UN-Sonderberichterstatterin für
außergerichtliche Hinrichtungen und Meinungsfreiheit hatte sie am 1. März
gemeinsam mit ihre Kollegin Irene Khan Ergebnisse einer Untersuchung über
die näheren Umstände der Vergiftung Nawalnys vorgestellt. Dabei hatten
beide die sofortige Freilassung Nawalnys aus der Haft sowie internationale
Ermittlungen gefordert.
Derweil scheint auch Nawalny seine Prinzipien bisweilen zu überdenken. Im
April hatte er nach drei Wochen und schon in einem lebensbedrohlichen
Zustand einen [2][Hungerstreik abgebrochen]. Ein Grund für diese Aktion war
die Weigerung der Anstaltsleitung, zu Nawalny Ärzte seines Vertrauens
vorzulassen.
Unterdessen gehen die Repressionen gegen die Unterstützer*innen von
Nawalny mit unverminderter Härte weiter. Am 4. Mai brachte eine Gruppe von
Abgeordneten in der Duma ein Gesetzesprojekt ein, wonach Personen nicht bei
Wahlen antreten dürfen, die mit einer Tätigkeit für als extremistisch oder
terroristisch eingestufte Organisationen in Zusammenhang gebracht werden.
Dieses Vorhaben bedrohe alle, die in Nawalnys Team gearbeitet oder für
dessen Organisation gespendet hätten, schrieb Leonid Wolkow auf Twitter.
„Wir haben schon eine Menge Gesetze gegen Nawalny gesehen, aber so etwas
ist noch nicht dagewesen“, so Wolkow.
Seit Ende April stehen die Regionalbüros von Nawalnys Netzwerk auf einer
Liste „terroristischer und extremistischer“ Organisationen. Das kommt de
facto einem Betätigungsverbot gleich. Aus diesem Grund haben sich viele
Büros bereits selbst aufgelöst.
7 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Barbara Oertel
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