Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Schwere Krise in Israel: Vom tiefsten Punkt
> Noch vor Kurzem schien in Israel eine ganz andere Politik möglich. Unser
> Autor hofft weiterhin auf eine bessere Zukunft, ohne Benjamin Netanjahu.
Bild: Gaza-Stadt nach einem israelischen Luftangriff
Tel Aviv taz | Israel ist instabil. Die [1][Ereignisse folgen nun so
schnell aufeinander], dass es sogar für Israelis selbst schwer ist,
hinterher zu kommen. Dabei ist es kaum einen Moment her, dass eine andere
Gegenwart möglich schien: Eine geeinte Regierung mit arabischer
Unterstützung.
Aber jetzt ist alles anders. Im Kontext der anhaltenden, furchtbaren
Gewalttaten zwischen Juden und Arabern stellte Naftali Bennett,
Vorsitzender der politischen Allianz Jamina, die mehrere rechte Parteien
unter sich versammelt, am Donnerstag klar, dass eine solche Regierung keine
Option mehr ist. Laut Bennett sei sie nicht in der Lage, die Zusammenstöße
in den Städten mit gemischter Bevölkerung zu unterbinden.
Der Einsatz von Soldat:innen sowie die Verhaftungen in arabischen
Nachbarschaften seien unter Mansour Abbas, dem Parteivorsitzenden der
Vereinigten Arabischen Liste, nicht möglich, hieß es aus Kreisen um
Bennett.
Die israelische Gesellschaft steht derzeit an einem der tiefsten Punkte, an
die ich mich erinnern kann. Arabische Randalierer versuchten, eine Synagoge
in der Stadt Lod in Brand zu setzen. Eine Gruppe jüdischer Jugendlicher
verprügelte einen arabischen Fahrer in Bat Jam.
Selbstverständlich sind diese Gewalttaten nicht die Regel – und es gibt
sie, die Menschen, die sich für den Frieden zwischen Jüd:innen und
Araber:innen einsetzen. Und doch hat die gewalttätige Minderheit einen
zerstörerischen Effekt auf die zarte, zerbrechliche [2][Koexistenz] in
unserem Land.
Israel scheint sich erfolgreich aus der [3][Covid-19-Pandemie
herausmanövriert] zu haben, nur um jetzt zu seiner blutigen Routine
zurückzukehren. Die Kämpfe im Gazastreifen halten an und Raketen fliegen
auf Israel. In Tel Aviv waren die Straßen in der Nacht auf Freitag leer,
nachdem wir zwei Nächte lang unter Beschuss standen.
## Wandel war vor ein paar Tagen noch eine Option
Premierminister Benjamin Netanjahu profitiert von dieser Lage. Die Hamas
hat Israel provoziert und dennoch stellt sich die Frage, warum die
Situation genau zu dem Zeitpunkt eskalierte, als die Gegner:innen
Netanjahus im Begriff waren, sich für eine gemeinsame Regierung
zusammenzuschließen.
Netanjahu hat seinen Teil zur aktuellen Lage beigetragen. So war er es zum
Beispiel, der die Religiös-Zionistische Partei bei den letzten Wahlen
gestärkt hat und so den Einzug des rechts außen stehenden Politikers Itamar
Ben Gvir in die Knesset ermöglichte. Als sich die Situation in Jerusalem
zuspitzte, entschied sich Ben Gvir, sein Büro im überwiegend von
Araber:innen bewohnten Viertel [4][Scheich Dscharrah] zu beziehen. So
befeuerte er die Spannungen in der Nachbarschaft im Osten der Stadt
zusätzlich, bis schließlich die Entscheidung fiel, palästinensische
Familien von dort zu evakuieren.
Netanjahu hat jahrelang die Fatah und die palästinensische Autonomiebehörde
im Westjordanland ignoriert und damit zur Stärkung der Hamas beigetragen.
Doch bis vor ein paar Tagen noch schien Wandel für Israel eine echte Option
zu sein. Nach zwölf Jahren unter Netanjahus Regierung war ein Machtwechsel
endlich vorstellbar. In vier Wahlen innerhalb von zwei Jahren war Netanjahu
mehrfach daran gescheitert, seine Traumregierung zusammenzustellen – eine
„vollständig“ rechte Regierung, wie er es nannte. Er scheiterte, weil die
anderen Spieler in der politischen Arena bereit waren, sich gegen ihn zu
verbünden.
In den letzten Wochen sahen wir hier Bilder, die politische
Kommentator:innen sich nicht hätten vorstellen können: Naftali Bennett
traf sich mit Mansur Abbas, außerdem mit Meraw Michaeli, der Vorsitzenden
der Arbeitspartei, und dem Führer der linken Meretz, Nitzan Horowitz. Diese
Treffen wirkten wie ein Beweis dafür, dass in Israel eine andere Zukunft
möglich ist.
Gideon Sa’ar, nunmehr Vorsitzender der Partei Neue Hoffnung, war so etwas
wie der erste Riss in der Wand von Netanjahus Likud-Partei. Es war mutig
von Sa’ar, die Konservativen im vergangenen Dezember zu verlassen. Und dass
er mit seiner neuen Mitte-rechts-Partei sechs Sitze in der Knesset erhielt
und dem Druck aus dem rechten Lager standhielt, war ausschlaggebend dafür,
dass Netanjahu keine Regierung bilden konnte.
## Es gibt noch die, die an Veränderung glauben
Auch jetzt sieht es nicht danach aus, als würde Sa’ar sich wieder mit
Netanjahu und Bennett verbünden. „Die schlechte Arbeit der israelischen
Polizei während der Geschehnisse der letzten Tage steht im direkten
Zusammenhang mit ihrer gewollten systematischen Zerstörung und mit der
Besetzung unfähiger Leute auf die wichtigsten Positionen. Wenn ein Land so
geführt wird, dann kommt genau das dabei heraus“, schrieb er am Donnerstag
auf Twitter, gerichtet an Netanjahu und Amir Ohana, den Minister für
öffentliche Sicherheit.
Netanjahus politische Kultur basiert auf Spaltung – zwischen rechts und
links, Araber:innen und Jüd:innen. In seiner Ära wurde der linke
politische Flügel mit Verrätern gleichgesetzt, antiarabischem Rassismus
wurde ein Nährboden geschaffen. Den Preis für diese Linie zahlt die gesamte
israelische Gesellschaft. Es gibt genug drängende Probleme, denen dieses
Land sich widmen muss – der Konflikt mit den Palästinenser:innen, die
Benachteiligung und fehlende Anerkennung israelischer Araber:innen, die
erneuten Bemühungen des Irans um Atomwaffen oder unser Gesundheitssystem.
Und dennoch bleibt die anhaltende Herrschaft Netanjahus, dem in drei Fällen
Bestechung, Betrug und Vertrauensbruch vorgeworfen wird, bei alledem eines
der größten Probleme.
Es gibt noch die, die an Veränderung glauben. Obwohl die Chancen ohne
Bennett nicht gut stehen, will Jair Lapid, Parteivorsitzender der liberalen
Jesch Atid, nicht aufgeben. Er glaubt weiter an ein anderes
Regierungsbündnis. „Wandel wird nicht dann gemacht, wenn es gerade
praktisch ist“, schrieb er am Donnerstag in einem Statement. „Er wird
gemacht, wenn der Weg der richtige ist. Ich werde weiter daran arbeiten,
eine Regierung zu bilden und wenn nötig werden wir mehr Wahlen abhalten und
gewinnen.“
Derweil hoffe ich, wie so viele von uns. So wie Israel sich aus einer
weltweiten Gesundheitskrise gerettet hat, so kann ich nur hoffen, dass wir
es auch aus der politischen Krise der vergangenen zwei Jahre schaffen
werden. Diese Krise zu beenden könnte helfen, die Wunden zu heilen.
Zwischen Jüd:innen und Araber:innen, Israelis und Palästinenser:innen.
Der Autor ist Korrespondent und Redakteur der israelischen Tageszeitung
„Ha’aretz“. Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt von Lin Hierse.
15 May 2021
## LINKS
[1] /Schwerpunkt-Nahost-Konflikt/!t5007999
[2] /Eskalation-im-Nahen-Osten/!5767353
[3] /Israel-nach-dem-Lockdown/!5754807
[4] https://www.dw.com/de/proteste-nach-drohenden-zwangsr%C3%A4umungen-in-jerus…
## AUTOREN
Lior Soroka
## TAGS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Benjamin Netanjahu
Israel
Gaza
GNS
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israel
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Israel
## ARTIKEL ZUM THEMA
Aktivistin über Nahostkonflikt: „Viel Wut hat sich angestaut“
In Israel kommt es zu Unruhen zwischen jüdischen und muslimischen Israelis.
Rula Daood berichtet aus der Stadt Lod, die nachts abgeriegelt ist.
Gewalt in Nahost: Haus von Hamas-Chef unter Beschuss
Israel greift das Tunnelnetzwerk und Infrastruktur der Terrororganisation
Hamas in Gaza an. Der UN-Sicherheitsrat versucht sich an einer
Stellungnahme.
Autorin über Tel Aviv unter Beschuss: Mein Kind singt heut Raketenlieder
So einen massiven Beschuss wie dieser Tage hat man selbst in Tel Aviv noch
nicht erlebt. Eindrücke aus den Nächten im Bunkerraum.
Kämpfe zwischen Israel und Hamas: Der Konflikt eskaliert
Israel verschärft die Angriffe auf die Terrororganisation Hamas und nimmt
ein Tunnelsystem im Gazastreifen unter Beschuss. Ein Vermittlungsversuch
Ägyptens scheitert.
Israel-Palästina-Konflikt: Neue Generation der Wut
Die neue Eskalation zeigt: Nur wenn die Sicherheit Israels mit den Rechten
der Palästinenser verbunden wird, kann es eine Lösung des Konflikts geben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.