# taz.de -- Serie „Pure“ bei ZDFneo: Das Leben eine Orgie | |
> Die britische Serie „Pure“ erzählt von der Mittzwanzigerin Marnie, die | |
> unter sexuellen Zwangsgedanken leidet – mit Leichtigkeit und rauem Humor. | |
Bild: Marnie (Charly Clive, r.) und Joe (Anthony Welsh) in „Pure“ | |
Eigentlich möchte Marnie nur eine Rede auf der Hochzeitsfeier ihrer Eltern | |
halten, doch die Bilder in ihrem Kopf lassen sie keinen klaren Gedanken | |
fassen. Darin fallen die biederen Partygäste übereinander her, nackte | |
Körper jeder Form und jeden Alters verschmelzen miteinander. Für die | |
Mittzwanzigerin hat das nichts Erotisches, nichts Sinnliches: Sie sieht | |
sich ihre eigene Mutter umschlingen, bekommt Panik – und flieht. | |
Das ist die Eröffnungsszene der britischen Serie „Pure“ von Aneil Karia und | |
Alicia MacDonald, die ab Freitag auf [1][ZDFneo] ausgestrahlt und danach in | |
der Mediathek verfügbar sein wird. Das Geschehen der sechs je halbstündigen | |
Episoden verlagert sich alsbald vom schottischen Land nach London, wo | |
Marnie in der Kleiderkammer ihrer Schulfreundin Shereen (Kiran Sonia Sawar) | |
unterkommt. Sie hofft, dort ihr von ihren obsessiven Gedanken an Sex | |
gebeuteltes Leben in geordnete Bahnen lenken zu können. | |
Dass es sich bei ihren Impulsen – die für das Publikum mal als kurz | |
aufblitzende, kaum genau zu erkennenden Montagen, mal in drastischer | |
Ausführlichkeit visualisiert werden – um eine Zwangsstörung und damit eine | |
psychische Erkrankung handelt, ist Marnie zu diesem Zeitpunkt noch nicht | |
bewusst. Auch weil sich die Serie ausreichend Zeit nimmt, um diesen | |
allmählichen Erkenntnisprozess nachzuzeichnen, gilt sie als beispielhaft im | |
Umgang mit dem Thema „psychische Gesundheit“. | |
Bevor sie zum ersten Mal etwas von der titelgebenden Zwangsstörung „Pure O“ | |
(Primarily Obsessional Obsessive Compulsive Disorder) hört, muss sie in | |
einer Selbsthilfegruppe erst einmal den pornosüchtigen Charlie (Joe Cole) | |
kennenlernen, der ihr von dem Phänomen berichtet. Und bis zur endgültigen | |
Einsicht einige schmerzhafte Erfahrungen in der neuen Wahlheimat London | |
machen. | |
Komisch, nicht tragisch | |
Eine dieser Erfahrungen macht sie mit Amber (Niamh Algar), die sie in einer | |
Lesbenbar kennenlernt. Kurz nach ihrer Ankunft hat Marnie sich das Ziel | |
gesetzt, Sex mit einer Frau auszuprobieren – um sicherzugehen, dass ihre | |
Zwangsgedanken nicht von einer unterdrückten Homosexualität herrühren. Am | |
Ende der chaotischen Beinahe-Liebesnacht erkennt sie, dass nicht jeder | |
Gedanke nach Umsetzung verlangt. Dafür springt immerhin ein Praktikum bei | |
dem hippen, feministischen Magazin raus, für das Amber schreibt. | |
Von verstörenden Meetings inklusive Orgie im Kopf bis zu sexuellen | |
Verstrickungen mit dem Barista im Stammcafé des Büros: „Pure“ gelingt es, | |
bei aller Situationskomik und dem ungehobelten Humor, mit dem Marnie aus | |
dem Off erzählt, die nötige Bodenhaftung zu behalten. Die Leichtigkeit | |
täuscht nie vollends über den Schmerz hinweg, den die Störung verursacht – | |
auch wenn man ihn zwischenzeitlich durchaus vergessen kann. Aber warum | |
sollte von psychischen Erkrankungen nur tragisch erzählt werden? | |
Eine gewisse Glaubwürdigkeit erlangt Marnies Geschichte bereits dadurch, | |
dass Kirstie Swains Drehbuch auf den gleichnamigen Memoiren von Rose | |
Cartwright basiert, die unter einer vergleichbaren Zwangsstörung leidet. Im | |
Guardian äußerte Cartwright die Hoffnung, dass durch die Serie endlich mit | |
dem Missverständnis aufgeräumt werden könnte, dass sich das Phänomen | |
„Zwangsstörung“ ausschließlich um Ordnung oder Reinlichkeit dreht. | |
Die Verbindung aus Komödie und Drama nicht zu aufgesetzt wirkt, ist | |
allerdings auch den charmanten Figuren des Freundeskreises zu verdanken, zu | |
dem bald auch Ambers Mitbewohner und Kollege Joe (Anthony Welsh) gehört. | |
Aus dem durchweg überzeugenden Cast sticht wiederum besonderes | |
Hauptdarstellerin Charly Clive hervor, die für das eigenwillige Bündnis aus | |
Krankheit und Humor aus ihrer eigenen Biografie schöpfen kann: Als bei ihr | |
im Alter von 23 Jahren ein Gehirntumor in der Größe eines Golfballs | |
entdeckt wurde, taufte sie ihn kurzerhand „Britney“ und schrieb ein | |
Stand-Up-Programm darüber. | |
Die Unbeschwertheit der Serie erlaubt es ihr, in eine herrlich erfrischende | |
Selbsterkenntnis zu münden, die den Menschen ob seiner Störung nicht wie | |
ein rohes Ei oder gar einen Toten behandelt, über den bekanntlich nichts | |
Schlechtes gesagt werden darf: Als Marnie die Hilfsbereitschaft ihrer | |
erstaunlich fürsorglichen Freund*innen erneut wie selbstverständlich in | |
Anspruch genommen hat und sich ihres teils verletzenden Egoismus bewusst | |
wird, endet die Serie mit dem Schlusssatz: „Wow, ich bin echt ein | |
Arschloch!“ | |
26 Mar 2021 | |
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## AUTOREN | |
Arabella Wintermayr | |
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