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# taz.de -- Inhaftiert in Belarus: Brief aus dem Gefängnis
> Eine Journalistin schreibt über den improvisierten Alttag. Und darüber,
> was ihr fehlt. Janka Belarus erzählt von stürmischen Zeiten in Minsk.
> Folge 75.
Bild: Julia Slutzkaja, bevor sie festgenommen wurde
Der Presseklub – ein Ort, an dem sich Journalisten zusammenfinden,
Bildungsangebote wahrnehmen und Netz werken können, bekam am 22. Dezember
2020 unangemeldeten Besuch. Plötzlich tauchten Vertreter der
Sicherheitsstrukturen auf, um „[1][eventuelle Verstöße gegen die
Steuergesetzgebung]“ zu überprüfen. Die Gründerin des Presseklubs, die
Managerin Julia Slutzkaja sowie vier weitere Kolleg*innen, fanden sich
hinter Gittern wieder. Dort sind sie heute noch.
Die Journalist*innen werden der Steuerhinterziehung in großem Stil
verdächtigt. Offen gesagt sieht es eher danach aus, dass sie wegen ihrer
professionellen Tätigkeit verfolgt werden. Im Presseclub traten berühmte
Analytiker und Investigativjournalisten auf. Dort wurden auch Monitorings
und Analysen von Fake-News sowie von Beispielen für Propaganda in den
staatlichen Medien durchgeführt.
Julia, die seit 1994 im Journalismus tätig ist, schreibt aus der
Untersuchungshaft Briefe an ihre Tochter, die diese in den sozialen
Netzwerken veröffentlicht. Es ist sehr seltsam, etwas über den Alltag und
die „Hacks im Gefängnisleben“ zu erfahren, die sich Menschen unter diesen
schrecklichen Umständen ausgedacht haben. Aber wir leben nun einmal in
einer Dystopie, in der [2][jeder ins Gefängnis kommen kann]. Da erscheint
jede Innenansicht schon hilfreich und nicht mehr absurd.
„Ich beschreibe Dir jetzt meine seltsamen Tage. Um 6 Uhr ertönt eine kurze
Sirene und das Deckenlicht geht an. Schon um 6.05 Uhr erhalten wir an der
Ausgabestelle Schalen mit Brei. Meistens nehme ich eine leere Schüssel für
den Brei, den du mir gebracht hast. Wir müssen uns sputen. Denn um 6.50 Uhr
werden uns die Schalen und Löffel schon wieder weg genommen. Über den Tag
bleibt uns nur eine Tasse. Sie aus aus Aluminium, wie die Schalen und die
Löffel, und ohne Henkel. Danke für den Kugelschreiber, den Du übergeben
hast – ein guter Strohhalm. Damit kann man trinken, ohne sich die Lippen an
dem Becher zu verbrennen.
Denn die Flüssigkeit in einem Aluminiumbecher ohne Griff kühlt schneller ab
als die Ränder des Bechers. Es ist sehr leicht sich zu verbrennen! Die
Hauptsache ist, den Stift wieder zusammenzusetzen, sonst wird er während
der Überprüfung einkassiert. Eine medizinische Maske ist ein großartiger
Überzug für diesen Becher. Einfach die Gummibänder zusammen binden und
schon kann man den Becher in den Händen halten. Aber dann bloß nicht
vergessen, den Überzug wieder abzunehmen.
Eine Streichholzschachtel dient als Löffel für Kaffee und Tee. Instantbrei
kann man in der Seifenschale warm machen und dann mit dem Etui für die
Zahnbürste essen. (Aus einem Etui kann man zwei Löffel machen).
Um 8 Uhr findet eine Überprüfung statt. Bis dahin müssen wir essen, uns
waschen, umziehen und in Ordnung bringen. Das ist nicht einfach, weil
sieben Menschen das Gleiche tun. Alles passiert auf engstem Raum und wir
haben nur ein Waschbecken und eine Toilette zur Verfügung. Deshalb ist es
wichtig, dass alles harmonisch abläuft. Aber das haben wir mittlerweile
gelernt.
Und weiter: An Werktagen werden wir mitunter in Büros gebracht – zu
Anwälten oder Ermittlern. Manchmal bringen sie uns auch zu einem
Spaziergang nach draußen. Doch das ist so ganz anders als in amerikanischen
Filmen. Von jeder Zelle aus führt ein Weg in einen separaten kleinen
Innenhof aus Beton. Zu sehen sind nur ein Stück Himmel und Stacheldraht. Es
gibt überhaupt keinen Platz, um sich zu bewegen oder zu laufen. Und wenn es
regnet, ist es in diesen Betonschächten feucht. Aber wenn es nach mir
ginge, würde ich trotzdem jeden Tag spazieren gehen.
Von morgens bis abends läuft hier der Fernseher – natürlich die staatlichen
Programme. Jetzt fühle ich am eigenen Leib, was ich schon vorher wusste:
Wenn man keine Informationen aus anderen Quellen hat, ist es so gut wie
unmöglich sich vorzustellen, was wirklich vor sich geht. Es scheint, dass
überall Frieden und Ruhe herrschen und nur wir sind isoliert – Subjekte,
die dieser Glückseligkeit schaden.
Das Gefängnispersonal – das sind im Großen und Ganzen keine Tiere, sondern
Menschen, die eben diese Arbeit tun. Einige von ihnen sind auch sympathisch
und wohlwollend. Vielleicht so um die zehn Prozent. Es gibt richtige
„Hunde“, das sind ebenfalls so um die zehn Prozent. Die übrigen 80 Prozent
sind einfach nur Menschen.
Jetzt werde ich darüber schreiben, was mir fehlt. Dabei geht es nicht um
die offensichtlichen Dinge. Es gibt keine Möglichkeit, in die Ferne zu
blicken und den Horizont zu sehen. Vor mir sind die ganze Zeit nur Mauern,
Gesichter und Pritschen. Ein wenig helfen da Fotografien – ich betrachte
sie die ganze Zeit. Und Postkarten mit Papas Bildern – ich habe sie über
mir aufgehängt. Sie ersetzen mir den Blick aus dem Fenster. Auch Geräusche
fehlen. Wenn es regnet oder der Schnee knarzt. Ich vermisse
Vogelgezwitscher. Um mich herum gibt es nur Stimmen. Es sind viele und sie
sind laut. Und nah.
Mir fehlen Gerüche – so frisch und lebendig, die Erinnerungen wach rufen.
Erinnerst Du Dich, als Du einen Poncho für mich abgegeben hast? Noch lange
Zeit roch er nach Dir und Deinem Parfüm. Was für ein Luxus! Letztens hast
Du mir Handcreme zukommen lassen. Sie riecht nach Parfüm und ich benutze
sie als Parfüm, ein wenig davon tupfe ich hinter die Ohren oder auf die
Handgelenke.
Geräusche, Gerüche, Berührungen, Horizonte – das alles sind unveräußerli…
Bestandteile der Freiheit.“
Aus dem Russischen Barbara Oertel
12 Apr 2021
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## AUTOREN
Janka Belarus
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