| # taz.de -- Pilotprojekt im Konzertsaal: Wie Kühe auf der Weide | |
| > Kann der Spielbetrieb trotz Pandemie wiederaufgenommen werden? Die | |
| > Berliner Philharmoniker spielten am Samstagabend vor Besuchern. | |
| Bild: Pilotprojekt im Konzertsaal: Die Berliner Philharmonikern mit Kirill Petr… | |
| BERLIN taz | Auf dem Weg in die Philharmonie zum Konzert am Samstagabend | |
| durch den Gleisdreieckpark gefahren, an einer Tischtennisplatte spielen | |
| welche Rundlauf, aus einer Musikbox weht Nena herüber. „Gib mir die Hand / | |
| Ich bau dir ein Schloss aus Sand / Irgendwie, irgendwo, irgendwann“. | |
| Abgesehen davon, dass Handgeben untersagt ist, die passende Ouvertüre für | |
| diesen Abend, der eine wichtige Frage stellt: ob nämlich das, was dieses | |
| Konzert bieten soll, mehr ist als nur eine Illusion. | |
| Die Philharmoniker sollen spielen, die Fantasie-Ouvertüre „Romeo und Julia“ | |
| von Tschaikowsky und Rachmaninows zweite Symphonie, es ist der | |
| Konzert-Auftakt eines [1][Pilotprojekts in mehreren Berliner | |
| Kulturstätten], das zeigen soll, ob und wie das gemeinsame Erleben von | |
| Theater und Musik möglich ist. Hier, an diesem Abend, wird es ausprobiert. | |
| Das Orchester in voller Größe, im Saal 1.000 Menschen, jeder zweite Platz | |
| besetzt. Die Hoffnung: Wenn es gut geht, könnte man es wagen. Die | |
| Voraussetzung: Jeder bringt neben der Eintrittskarte ein Ausweispapier und | |
| ein negatives Sars-CoV-2-Antigen-Testergebnis mit. Die Lust, trotz allem: | |
| riesig, schon nach 3 Minuten waren die Eintrittskarten weg. Die Düsternis: | |
| die Zahlen, die Inzidenz, „Gib mir die Hand / Ich bau dir ein Schloss aus | |
| Sand …“ | |
| Verheißungsvoll funkelnd taucht der Scharoun-Bau im Straßendickicht auf, | |
| still ist es, keine Plaudereien vor dem Eingang, eine Amsel singt ihr | |
| Abendlied. Im Foyer ist man angehalten, den farbig ausgeleuchteten Pfad zu | |
| nehmen, der einen zum jeweiligen Saaleingang führt. Diese sonst so | |
| flirrende Arena ist menschenleer, der Regierende Bürgermeister Müller wird | |
| gesehen, den steinernen Boden betrachtend, umgeben von seinem Gefolge. | |
| ## Alles wie immer | |
| Im Saal spielt sich die Kontrabassgruppe warm, tiefes Grummeln; Albrecht | |
| Mayer stößt dazu, einer der beiden Solo-Oboisten, girlandet ein paar Läufe | |
| – also alles wie immer, wäre es nicht das erste Mal nach langer Zeit. | |
| Jubel, als das Orchester aufläuft und die Eiermann-Stühle einnimmt. Kann | |
| das gut gehen? 1.000 Menschen sitzen da, ganz schön voll wirkt der Saal, | |
| man kennt das nicht mehr. | |
| Die [2][Intendantin Andrea Zietzschmann] begrüßt – und wird bejubelt; | |
| Kultursenator Klaus Lederer hält eine Ansprache – und wird bejubelt. Die | |
| Welt schaut auf diese Stadt, sagt Zietzschmann, etwas pathetisch, aber es | |
| stimmt ja: Endlich wieder können Menschen zusammenkommen, wollen sich | |
| ergreifen lassen. Nervös sei er, sagt Lederer, weil es auch die gab, die | |
| gesagt hätten: „Ihr seid nicht ganz dicht“, in der Zeit der sich | |
| aufbäumenden dritten Welle Konzerte zu veranstalten. | |
| Aber: Wo, wenn nicht hier, solle man es ausprobieren? In einem Saal mit | |
| sehr guter Be- und Entlüftungsanlage, mit Hygienekonzept und 1.000 | |
| negativen Testergebnissen, davon wurden allein 480 den Nachmittag über im | |
| Foyer genommen. | |
| Kirill Petrenko, agil auf dem Weg zum Pult, milde lächelnd, und er wird | |
| bejubelt wie sonst nach dem Schlussakkord. Ja, so was muss es jetzt wieder | |
| geben – also müsste es, wenn die Inzidenz nicht so hoch und die Prozedur so | |
| aufwendig wäre. | |
| ## Konzert nicht nur hören, sondern auch sehen | |
| Ruhevoll beginnt das Konzert mit dem Bläserchoral aus Romeo und Julia, die | |
| Streicher bauen Spannung auf, die Harfe flicht Zartheit hinein, bald drängt | |
| die Musik nach vorne, bäumt sich auf, entlädt sich; und das ist es, was am | |
| stärksten gefehlt hat: ein Konzert nicht nur zu hören, sondern es auch zu | |
| sehen; Linien, die durch den Saal gezogen werden, Musik im Moment des | |
| Entstehens und sofortigen Verklingens. | |
| Was für ein Genuss, Petrenko beim Antreiben und Bremsen, beim Aufwallen und | |
| Abdimmen zu beobachten. Ein Tänzer, ein Arbeiter, mal geht er in die Knie, | |
| schraubt sich hinein ins Orchester, steht bewegungslos da, lauscht, greift | |
| wieder zu. Und das Orchester folgt ihm, nimmt den Rachmaninow raumgreifend, | |
| führt ihn bis in den wuchtigen Schluss. | |
| Unter seiner Maske murmelt ein Konzertgänger, ihn erinnere das an Kühe, die | |
| nach einem langen Winter erstmals wieder auf die Weide dürfen. Ein | |
| unerhörter Vergleich? Er meint das voller Anerkennung und Bewunderung. Nur | |
| dass Kühe wild herumspringen, sich hier aber die Musiker stets, wenn auch | |
| mit Verve, auf den Weg begeben, den Petrenko zeigt. Lang anhaltender, | |
| tosender Applaus – ein klares Votum: mehr davon. | |
| Klaus Lederer hat angekündigt, diesen Probelauf, der sich noch bis in den | |
| April hinein erstrecken wird, auszuwerten. Welche Schlüsse daraus gezogen | |
| werden? Niemand kann es sagen, im Moment kann man es nur ahnen. Die Zahlen, | |
| die Zahlen. | |
| 23 Mar 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Felix Zimmermann | |
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