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# taz.de -- Spaziergänger und Corona: (K)eine wilde Nacht
> Zum Ausbruch des Coronozäns hatte sich Ingo Arend diese nächtlichen
> Wanderungen angewöhnt. Jetzt trifft er nur noch depressive Spaziergänger.
Bild: Keine spontane Bottle-Party, keine Jam-Session am Gehsteig, nur Stille
Was in der Welt passiert und was uns amüsiert, geschieht besonders in der
Nacht.“ Wehmütig geht mir dieser Tage immer der Song durch den Kopf, den
Elisabeth Flickenschildt alias Nelly Oaks, Wirtin der verräucherten
Hafenspelunke „Mekka“ in Edgar Wallace unvergessenem London-Krimi „Das
Gasthaus an der Themse“ singt.
Zum Ausbruch des Coronozäns hatte ich mir diese nächtlichen Spaziergänge
angewöhnt. Doch wenn ich pünktlich um halb elf den Süden Kreuzbergs zu
umrunden beginne, wird Nellys Lockruf jedes Mal neu Lügen gestraft: seit
einem Jahr nur noch [1][gähnende Leere].
Klar, die [2][leere Stadt bei Nacht hat ihre Reize]. Aber der Späti kann
doch nicht das letzte Wort zum Berliner Nachtleben sein. Stolperte man
früher an jeder Ecke über eine spontane Bottle-Party, in ein schummriges
Etablissement oder in eine Jam-Session on the boardwalk, trifft man jetzt
nur noch depressive Spaziergänger. Oder ein paar dunkle Gestalten, die zwar
in dunklen Ecken lauern, aber doch nur auf ihren Smartphones herumdaddeln.
Immerhin, da hat Nelly Oaks recht: „Wer dunkle Wege geht, an Straßenecken
steht, tut dies besonders in der Nacht!“ Leider tun das auch die
Gassi-Geher, die ihrem Hasso letzte Gelegenheit bieten wollen, sich
digestive Erleichterung zu verschaffen. In ihren schlammfarbenen Parkas
wähnen sie sich unsichtbar wie Stealth-Bomber. Und im Schutze der Nacht
fällt das schmutzige Geschäft, dem sie verschämt Vorschub leisten, nicht so
auf.
## Drei Jungs verschwinden im Keller
Umso entzückter waren Mario und ich, als bei einem unserer letzten
Midnight-Trotts plötzlich ein schneeweißes Mercedes-Ufo mit dunkel getönten
Seitenscheiben neben uns bremste. Drei konturscharf rasierte Jungs pellten
sich in [3][schwarzen Trainingshosen], Kunstfell-Parkas und blendend weißen
Sneakers aus dem Gefährt und verschwanden in Lichtgeschwindigkeit in einem
Keller. Hallo! Was ging denn hier ab?
„Cafe Herzlos“. Auf diese Tarnung konnten nur besonders gerissene
Unterweltler verfallen sein. Wir konnten nicht ausmachen, ob der
unscheinbare Abgang zu einer Bar, einer Spielhölle oder einem
Verschwörernest führte.
Das Versprechen auf nachtaktives Allerlei machte uns mutig, wir klopften.
Vages Dämmerlicht im Hintergrund, süß waberte Aprikosenrauch aus der
rissigen Holztür. Doch niemand öffnete.
Enttäuscht schlichen wir weiter. Auch das verführerisch violett
illuminierte Ladenlokal auf der anderen Straßenseite erwies sich nicht als
temporäre Lasterhöhle, sondern als mit Laken verhangenes Wohnzimmer, in dem
drei apathische Matratzenbewohner auf Displays starrten.
## Keine Performance
Die vage Performance an der Straßenecke stellte sich als in Goldfolie
gehüllter Nichtsesshafter heraus, der mit einer Flasche Wodka an den Lippen
Stoßseufzer murmelte. Plötzlich tönte von den Höhen des Viktoriaparks
chorischer Lärm. Nichts wie hin!
Wir wagten den Aufstieg über die spiegelglatte Serpentine. Auf den Bänken
vor dem verrammelten Schinkeldenkmal hatten ein paar Verwegene ein DJ-Set
aufgebaut.
Aus den Lautsprechern auf den Bänken zu Füßen des Schinkelkreuzes schrillte
Bon Jovis „One Wild Night“. Davor loderte ein Lagerfeuer zum
[4][Coronaburnout], umstellt von einem Schock Vermummter. Herrlich. Die
Truppe hatte die Berliner Nächte seligen Andenkens noch nicht aufgegeben.
Beseelt griffen wir zu der lauwarmen Sangría in Pappbechern.
Am Fuße des Feier-Bergs konnten wir sehen, wie ein blau-silberner
Streifenwagen mit zwei maskenbewehrten Gesetzeshütern im Schritttempo den
Berg umkreiste. Wie sang doch Nelly Oaks? „Von abends bis morgens tut sich
so mancherlei, und wenn es hinterher in keiner Zeitung steht, merkt es auch
nicht die Polizei.“
5 Mar 2021
## LINKS
[1] /Ein-Jahr-Corona-in-Berlin/!5752344
[2] https://irre.taz.de/exec/inputmask.pl?sid=1360c1d590717e2d2c4c69b8a66e988b&…
[3] /Entspannter-leben-dank-Lockdown/!5753710
[4] /Therapeutin-ueber-Psyche-im-Shutdown/!5731298
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
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