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# taz.de -- Als Leichtathleten eine EM boykottierten: Der Septemberstreik
> Nur ein Mal in der BRD-Geschichte waren es Sportler, die einen Wettbewerb
> boykottierten. Die EM 1969 fand ohne westdeutsche Einzelstarter statt.
Bild: Die DDR im Blick: West- und ostdeutsche Fahnenträger bei der EM-Eröffnu…
Martin Jellinghaus sagt: „1969, bei der Europameisterschaft, das war ein
Aufstand.“
Ingrid Mickler-Becker sieht das so: „Es war ein Aufbegehren: Nehmt uns
ernst, wir sind mündig, wir können politisch denken!“
Und das ist die Einschätzung von Jürgen May: „Das war die Urstunde der
Athletenmitbestimmung.“
Alle drei waren Ende der sechziger Jahre Weltklasse-Leichtathleten und
beteiligt am bislang einzigen Boykott eines Sportgroßereignisses durch
deutsche Sportler: Martin Jellinghaus gehörte zu den schnellsten
400-Meter-Läufern der Welt, Ingrid Becker – seit ihrer Heirat heißt sie
Mickler-Becker – war ein Jahr zuvor, 1968 in Mexiko, Olympiasiegerin im
Fünfkampf geworden, und der Mittel- und Langstreckler Jürgen May war 1965
im DDR-Trikot Weltrekord gelaufen, 1967 in die BRD geflohen und sollte 1969
erstmals für Westdeutschland an einer EM teilnehmen.
Die fand in Athen statt, und gut vorbereitet reiste die Mannschaft des
Deutschen Leichtathletikverbandes (DLV) Anfang September nach Griechenland.
„Bis zur Zwischenlandung in Belgrad waren wir der Meinung, dass alles ganz
normal stattfindet – mit Jürgen May“, erinnert sich Ingrid Mickler-Becker.
„Dort erst haben wir von der DLV-Führung gehört, es gebe Unstimmigkeiten,
aber man werde alles regeln, es gehe alles in Ordnung.“
## Sperre wegen Puma-Schuhen
Gegen Jürgen May hatte der DDR-Leichtathletikverband 1966 eine zunächst
lebenslange Sperre verhängt, die später verkürzt wurde. Grund war, dass May
einem anderen DDR-Läufer Puma-Schuhe vermittelt hatte. „Meine Sperre war am
1. Januar 1969 abgelaufen“, erinnert er sich, „und ich hatte ja vor dieser
EM schon für den DLV an einem Erdteilkampf Amerika – Europa teilgenommen.“
Zwar hatte es die DDR-Sportführung nach Mays Flucht fertiggebracht, seine
Rekorde annullieren und ihn sogar nachträglich als „DDR-Sportler des Jahres
1965“ streichen zu lassen, aber ernste Anzeichen, dass sich das Regime
gegen seinen Start bei dieser EM stemmen könnte, hatte es nicht gegeben.
„Die gab es überhaupt nicht“, sagt May, „ich bin da genauso normal
hingereist wie die gesamte Mannschaft.“
In Athen angekommen, machte zunächst Paul Schmidt, der für die Läufer
zuständige Bundestrainer, die Sportler darauf aufmerksam, dass Jürgen May
wohl nicht starten dürfe. Ingrid Becker, die gemeinsam mit dem Speerwerfer
Hermann Salomon Aktivensprecherin war, informierte sich bei anderen
europäischen Verbänden. „Da haben wir gehört, dass Jürgen kein Startrecht
hat.“
Die DDR argumentierte mit einer Regel, wonach jemand, der schon für ein
anderes Nationales Olympisches Komitee (NOK) gestartet ist, nach einem
Wechsel drei Jahre gesperrt sei. Für May, der 1967 geflohen war, hätte das
bis 1970 gedauert. „Da haben wir gesagt, das trifft auf Deutschland doch
nicht zu“, sagt Mickler-Becker.
## Beethovens Neunte und die Souveränität
In der Tat war das NOK der DDR 1969 international noch nicht voll
anerkannt. Bei den Olympischen Spielen in Mexiko war die DDR zwar mit
eigener Mannschaft dabei, aber beide, Ost und West, traten unter der
Olympischen Flagge an, und zur Siegerehrung wurde Beethovens Neunte
gespielt.
Becker und Salomon wurden aktiv. „Vom DLV kam immer nur Beschwichtigung“,
erzählt sie, also wandten sie sich an das Europakomitee der Leichtathletik.
„Da haben wir die Wahrheit gehört“: May durfte nicht starten, und der DLV
war darüber schon lange informiert.
„Wir haben gesagt: Das geht nicht“, sagt Martin Jellinghaus, der im
Liberalen Hochschulbund organisiert war. „Wir waren empört, dass wir von
der DLV-Führung in eine solche Situation gebracht wurden“, sagt
Mickler-Becker. „Es gab viele nächtliche Diskussionen.“ Ein Streik wurde
immer wahrscheinlicher.
Jürgen May, um den es ging, war dabei nicht wohl. „Ich bin nur ein Mal bei
diesen Versammlungen gewesen“, berichtet er. „Mein Appell lautete: Lasst
mich außen vor, für mich ist das eine riesige Belastung.“ Schließlich waren
Athleten dabei, für die die EM die Chance ihres Lebens darstellte. Becker
antwortete ihm, „es geht nicht mehr um dich, es geht um den Verband, der
uns so behandelt“.
## Willy Brandt mischt sich ein
In ihre nächtlichen Diskussionen platzte auch ein Fernschreiben von Willy
Brandt (SPD), damals Wahlkämpfer mit der Aussicht, Bundeskanzler zu werden.
„Ganz gleich, welche Entscheidung ihr trefft“, erinnert sich Mickler-Becker
an den Wortlaut, „wir stehen an eurer Seite.“ Eine Entscheidung musste
fallen.
An dem Tag, an dem die Wettkämpfe begannen, votierte eine Mehrheit für
Boykott. Der Sporthistoriker Arnd Krüger schreibt von einem
Abstimmungsergebnis 61 zu 10, Mickler-Becker erinnert sich hingegen, dass
es knapp war. Sie selbst hat sich enthalten, denn sie hatte schon an drei
Olympischen Spielen teilgenommen und in Mexiko Gold gewonnen; da wollte sie
nicht anderen, deren Karriere gerade erst losging, die Chance auf eine
Europameisterschaft vermasseln.
Martin Jellinghaus war für den Streik, auch wenn er sich sportlich damit
geschadet hat. „Ich wäre vermutlich Europameister geworden, ich war ja
damals der schnellste 400-Meter-Läufer in Europa.“
Der Boykott galt nur den Einzelstarts, an den Staffeln nahm das DLV-Team
teil. Eine „Geste gegenüber dem Veranstalter“ sei das gewesen, sagt
Jellinghaus, und Mickler-Becker erklärt: „Wir wollten klarstellen, dass es
eine innerverbandliche Sache ist und dass wir nichtsgegen die
Organisatoren in Athen haben.“
## Militärdiktatur in Griechenland
Gegen die hätte man 1969 durchaus etwas haben können. Die Wettkämpfe fanden
im Athener [1][Karaiskakis-Stadion] statt, in dem 1967 das griechische
Obristenregime politische Gefangene interniert hatte. Aus Protest dagegen
hatte beispielsweise die schwedische Mannschaft nur mit einer eingerollten
Flagge an der [2][Eröffnungsfeier] teilgenommen, die DDR senkte beim
Vorbeimarsch nicht, wie es üblich war, die Flagge.
Für Martin Jellinghaus ist der EM-Boykott dennoch ein Meilenstein. „Sie
dürfen nicht vergessen, das war ja noch recht kurz nach dem Zweiten
Weltkrieg. Die Funktionäre, das waren ja noch alte Haudegen.“ Bald trat
diese alte Garde der Leichtathletikfunktionäre zurück.
Auch für Ingrid Mickler-Becker steht der demokratische Aufbruch, den ihre
Aktion bedeutete, im Vordergrund. „Das Aufbegehren der 68er hatte einen
großen Einfluss.“ Sie sieht auch Parallelen zu den Black-Power-Protesten
von US-Leichtathleten bei den Olympischen Spielen in Mexiko im Oktober
1968. Martin Jellinghaus, der über 400 Meter Olympiafünfter geworden war,
hatte sich sogar öffentlich mit den schwarzen US-Sportlern solidarisiert.
Jürgen May reiste bald aus Athen nach Deutschland zurück, ein schlechtes
Gefühl bei ihm blieb. „Ich war einerseits tief beeindruckt, wie sich die
Mannschaft mit mir solidarisiert hat, aber andererseits hat mich das sehr
belastet. Das ist ein Rucksack, den ich mein Leben lang mit mir rumtrage.“
## Vorbild war eine Streikdrohung 1964
Martin Jellinghaus wurde in Athen mit der 4x400-Meter-Staffel Dritter, und
Ingrid Becker gewann mit der 4x100-Meter-Staffel Silber – hinter der
DDR-Auswahl. „Aber ich wollte die Medaille nicht“, sagt sie. „Die ging ans
NOK, und als sich das dann mit dem DSB zum DOSB vereinigte, blieb die
Medaille bei Walther Tröger“, dem Olympiafunktionär, der jüngst gestorben
ist.
Zu Hause in der Bundesrepublik fand der Sportlerboykott Beifall. „70
Goldmedaillen als Lohn für die Kameradschaft“ versprach die Bild-Zeitung,
und Bundesinnenminister Ernst Benda (CDU) sagte, ihn beeindrucke „die
Haltung der Mannschaft mehr als das Verhalten ihrer Funktionäre“. Das
dürfte daran gelegen haben, dass sich die sonst so verpönte Vermischung von
Sport und Politik diesmal gegen die DDR richtete.
Dabei hatte der EM-Boykott von 1969 durchaus ein anderes Vorbild, wie Arnd
Krüger beschreibt: Im August 1964 war ein DLV-Juniorenteam zu einem
Länderkampf ins französische Dole gereist. Aus disziplinarischen Gründen
sollte ein Teammitglied suspendiert werden, die übrige Mannschaft war
wütend und drohte mit Streik. Erfolgreich, der Sprinter durfte starten.
Ein Ergebnis des Protests war die Einführung von gewählten
Mannschaftssprechern für das Olympiateam 1968. Für Jürgen May ist klar,
dass die 1969 durchdiskutierten Nächte in Athen eine weitergehende
Mitbestimmung der Sportler erst möglich gemacht hatten, „der DLV war,
glaube ich, der erste Verband, der so etwas hatte“.
## „Eine gewisse Radikalität“
Einen Streik deutscher Nationalmannschaftssportler hatte es vorher und hat
es seither nicht gegeben. Es ist schon ein Stück Sportgeschichte, das die
DLV-Athleten im September 1969 geschrieben haben. Ingrid Mickler-Becker
meint: „Es gab nur zwei Ereignisse, die mich derart aufgeregt haben: Das
war die EM 1969 und das war der Olympiaboykott 1980.“ Letzterem hatte sie
als damaliges Mitglied des NOK zugestimmt, kurze Zeit später hielt sie das
bereits für einen Fehler.
Die heutigen Debatten über politisches Engagement von Sportlern verfolgt
Mickler-Becker mit Interesse. Vom aktuellen Aktivensprecher, dem
Fechteuropameister Max Hartung und seinen Mitstreitern, hat sie eine hohe
Meinung. „In ihrer Vernünftigkeit haben die jetzigen Sportler eine gewisse
Radikalität.“
6 Feb 2021
## LINKS
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Karaiskakis-Stadion
[2] https://www.youtube.com/watch?v=KwyDddxj-gM
## AUTOREN
Martin Krauss
## TAGS
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Griechenland
Leichtathletik
Black Lives Matter
Kolumne Über den Ball und die Welt
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