# taz.de -- Gedanken in der Pandemie: Scheißhimmel über Berlin | |
> Die Durchhaltelogik beim Lockdown ist keine Option. Vielleicht hilft es | |
> zu fragen: War das alte Leben eigentlich wirklich so geil? | |
Bild: Ist Pandemie oder was? | |
Um mich herum sind alle depressiv. Nicht im klinischen Sinn, zumindest | |
hoffe ich das. Ich bin natürlich nicht mit allen den typischen | |
Fragenkatalog durchgegangen, ich würde nur gerne trösten, und weiß nicht, | |
wie. Vermutlich leiden einfach fast alle an der Situation. Es herrscht also | |
das, was ich mal als Vorstufe von Depression bezeichnen würde: Erschöpfung | |
der Seele. Stille. Ein schwermütiges Schweigen. Zwar wird natürlich weiter | |
geredet, gegrummelt und gemurrt, aber leiser. Mut- und freudlos, gedämpft. | |
So einheitsgrau wie der Scheißhimmel über Berlin, so saftlos wie seine | |
staubigen Schrippen. | |
Ich kann schon verstehen, warum. Die einen sind überfordert mit dem | |
lästigen Teil des Lebens. Entweder ist ihr ohnehin harter Job noch härter | |
geworden, oder es kam zum normal harten Job noch das | |
[1][Nebenbei-Kinder-Beschulen] oder Ganztags-Bespaßen obendrauf, bei | |
Letzterem stellt sich auch noch die Frage: Bespaßen womit? | |
Die anderen sind völlig unterfordert, die mit den nicht so harten Jobs | |
und/oder ohne Kinder. Die, die ihr Leben sonst mehr im Außen gefüllt haben. | |
Viel Außen gibt’s aber halt gerade nicht, und das ist doof, wenn man nicht | |
gerade Erfüllung im Musikhören oder spazieren findet. Denn klar, auch | |
Unterforderung kann übelst anstrengend sein, zumindest für die Seele, das | |
weiß jeder, der schon mal maximal unterfordert in irgendeinem Büro saß und | |
sich unter Todesqualen gefragt hat, warum zum Teufel er (oder sie) nicht | |
mehr mit seinem Leben angestellt hat und wie zur Hölle man noch vier | |
Stunden beschäftigt wirken soll, obwohl alle Mails längst gelöscht, alle | |
Kaffeetassen gespült und alle „echte“ Arbeit ohnehin seit Stunden | |
verrichtet ist. Ja, wahrscheinlich würden die meisten – so wie ich – einen | |
echten Hochdruck-Job (Küchenchef, Sanitäter, Kindergärtner) dieser Agonie | |
des Nichts-zu-tun-Habens sogar bei weitem vorziehen. | |
Aber jetzt steht man halt da, im Lockdown oder dem, was zumindest danach | |
aussehen soll, mit dem Leben, das man sich irgendwann, als man jung und | |
dumm war, mal ausgesucht hat, und ärgert sich. So oder so. | |
Ist müde und traurig und schwach – alles ziemlich weit unten im sozialen | |
Ranking der Gefühle – und fühlt sich gleich noch mieser, weil man sich | |
schlecht fühlt. Dabei ist das hier halt eine Ausnahmesituation; wann, wenn | |
nicht jetzt, darf man sich mies fühlen? Statt gnädig mit sich und seinen | |
Gefühlen zu sein, wünscht man sich insgeheim lieber eine irgendwie | |
aufregende Ausnahmesituation. Eine, in der man was leisten kann. Aber kaum | |
einer von uns darf Kinder retten, Verfolgte verstecken, sich von ’nem | |
Hubschrauber abseilen oder wenigstens flammende Philippiken halten, die die | |
Welt retten. Gut, Letzteres versuchen viele, allein die Welt- oder sonst | |
eine Rettung gelingt ihnen nicht. Es ist, man muss es schon so sagen, eine | |
verdammt öde Ausnahmesituation. | |
Also einfach Zähne zusammenbeißen und durch? Keine so gute Idee, sagt Jan | |
Kalbitzer, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Es habe sich | |
gezeigt, dass Menschen, die auf eine Durchhaltetaktik setzten, mehr | |
Probleme im Umgang mit der Krise hätten. „[2][Die sind immer zermürbter und | |
können immer weniger durchhalten.]“ Eine langfristige Anpassung an die | |
Situation sei hingegen hilfreich. | |
Wie jetzt? Sollen wir uns an diesen Mist auch noch gewöhnen? Anpassen ans | |
Zuhausebleiben? Wer so fragt, steckt noch in der Durchhaltelogik. | |
Vielleicht hilft es, zu fragen: War das alte Leben eigentlich wirklich so | |
geil? Oder bot es einfach bessere Ablenkung von dem, was uns eigentlich | |
beschäftigt? Wenn einem im Büro schon immer so fad war, dass man es nur mit | |
Extrem-Irgendwas am Wochenende ertragen hat, ist es vielleicht Zeit für was | |
Neues. | |
Andererseits ist natürlich alles eine Frage der Perspektive. Wenn mich – | |
was derzeit öfter vorkommt – die Panik packt, ob ich ab Mai, wenn das Baby | |
da ist, jemals wieder schlafen, duschen, Sex haben werde, so wie es mir | |
viele erfahrene Eltern gerade prophezeien, denke ich: Wie lang ist schon | |
jemals? Drei Jahre, fünf Jahre, zehn Jahre? Schnell genug wird das Kind | |
einen Zettel an seine Zimmertür kleben, auf dem „Eltern raus“ steht. Das | |
hilft mir immer. Auch bei anderen, potenziell oder real anstrengenden, | |
schmerzhaften Dingen. Wie lang ist Zeit, wenn man auf sein ganzes | |
(hoffentlich natürlich langes) Leben guckt? | |
Was also sind ein, zwei, vielleicht drei Coronajahre? Am Ende schnurren sie | |
zusammen zu einer Geschichte, die wir unseren Enkeln erzählen werden. | |
Klar, der Rhythmuswechsel kam ziemlich abrupt: von superschnell zu | |
superlangsam. Und klar fällt einem im Spielstraßentempo plötzlich auf, was | |
man dem Leben noch alles abpressen will, ganz gleich, wie lang es sein mag. | |
Hauptsache, finde ich aber, es fällt einem ein und man rauscht nicht nur so | |
durch und dran vorbei. | |
23 Jan 2021 | |
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[1] /Homeschooling-mit-Homeoffice/!5738199 | |
[2] https://www.deutschlandfunk.de/resilienz-in-der-coronakrise-psychiater-laen… | |
## AUTOREN | |
Ariane Lemme | |
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