# taz.de -- Begegnung im Zug: Die verpasste Chance | |
> Was meine ehemalige Lehrerin über die Arbeit der Medien sagte, war | |
> Unsinn. Ich hätte widersprechen müssen. Aber die alten Muster griffen zu | |
> stark. | |
Bild: Nicht immer einfach: Einspruch zu erheben, vor allem gegen ehemalige Auto… | |
Manchmal greift die Vergangenheit wie ein langer Arm ins Jetzt. Als ich | |
während der Feiertage an meiner alten Schule vorbeifuhr, musste ich an eine | |
Begegnung im Zug denken: Ich war auf dem Weg nach Dresden gewesen, der Zug | |
fuhr weiter bis nach Tschechien. Es war ein Zug mit alten Sechser-Abteilen, | |
an denen ein langer Gang vorbeiführt. Ich schaute durch das Gangfenster und | |
da kam sie plötzlich, die Vergangenheit: meine frühere Englischlehrerin. 16 | |
Jahre hatte ich sie nicht gesehen. Sie ging an mir vorbei, so wie sie | |
früher bei den Klausuren an den Tischen vorbeigegangen war. Ein Bild wie in | |
einem Traum. Sie musste jetzt in Rente sein. | |
Ich hatte den Impuls aufzuspringen, ihr hinterherzulaufen. Dann kam das | |
Zögern. Ob sie mich überhaupt erkennen würde? Später, auf dem Weg zur | |
Toilette, als ich sie wieder sah in ihrem Abteil, war der Zufall zu groß | |
für Zweifel. Jahrelang hatte die Lehrerin meinen Alltag mitgeprägt, war | |
ihre Bewertung wichtig gewesen, ihr Unterricht. Merkwürdig, sie jetzt zu | |
sehen. | |
Ich klopfte an ihre Abteiltür. Sie schaute hoch. Ich stellte mich vor. Doch | |
meine Befürchtung wurde wahr: Da war kein Erinnern in ihren Augen. Ich | |
nannte meinen Abiturjahrgang, versuchte meine Existenz in ihrem Früher zu | |
beweisen. Die anderen im Abteil schauten mich alle an. Ein Mann bot mir | |
sogar seinen Sitz an. | |
„Was haben wir denn gelesen“, fragte die Lehrerin, als würden damit alle | |
Rätsel gelöst. Ja, was hatten wir gelesen? Ich konnte mich an nichts | |
erinnern. Die Frage genügte, um in alte Rollen zu gleiten: Sie war die | |
Lehrerin. Ich die Schülerin. Versunken schaute mich die Lehrerin an. „Es | |
ist lange her, dass ich einen Schüler getroffen habe“, sagte sie. „Wie hat | |
Ihnen denn mein Unterricht gefallen?“ | |
„Gut“, sagte ich. | |
Und da kam es: „Ah ja, ich erinnere mich. Was machen Sie denn jetzt?“ | |
Ich erzählte, dass ich als Autorin und Journalistin arbeite. | |
„Sie wählen also Mitte-Links“, sagte sie sofort. | |
„Wie kommen Sie darauf?“ | |
„Ja, so ist das doch bei den Medien.“ | |
Dann sagte sie, dass man den etablierten Medien ja nicht vertrauen könne. | |
Sie nannte eine Partei, die dies ebenso vertrat und ihrer Meinung nach den | |
Menschen ihre Angst nehme. | |
Ich erschrak. Sie, die Lehrerin, die mir Sprache vermittelt hatte, sie | |
stellte den journalistischen Beruf infrage? Ich war nicht darauf | |
vorbereitet zu diskutieren, nicht in dieser Situation und Konstellation. | |
„Ich gehe dann mal wieder“, sagte ich mit Blick ins Abteil, in das ich | |
hineingeplatzt war. | |
Etwas Düsteres schob sich in meine Gedanken. Ich war schon vorher Menschen | |
begegnet, die den Medien nicht mehr vertrauen. Jetzt gehörte sogar meine | |
Lehrerin dazu. | |
Ich dachte daran, was ich ihr hätte sagen wollen: Ich sorge mich, dass das | |
Vertrauen in die Medien gefährdet ist, in die vierte Säule der Demokratie. | |
Ich bin stolz darauf, in meinem Beruf ausgebildet zu sein und ihn | |
auszuüben. Ich habe in vielen Redaktionen gearbeitet und erfahren, wie | |
Menschen dort um Ambivalenzen und Details ringen, die Wirklichkeit | |
hinterfragen und versuchen, ihr gerecht zu werden. Ich bin froh, in einem | |
Land zu leben, in dem eine freie Presse die Demokratie sichert. In dem die | |
Meinungsfreiheit Demonstrationen verschiedener Überzeugungen erlaubt. | |
Doch es war zu spät. Mein Halt kam. Ich stieg aus. Das Gefühl eines | |
Versäumnisses hing wie ein kalter Umhang um mich. Auch wenn die Situation | |
herausfordernd war. Auch wenn ich sie nicht überzeugen würde, es wäre | |
wichtig gewesen, ihr von meiner Haltung zu erzählen. In dieser Zeit, in der | |
Wahrheiten auseinanderdriften, wird es immer mehr politisch, wie wir uns im | |
Privaten verhalten. Es gibt keine perfekte Konstellation für das | |
Aussprechen einer Meinung. Wenn ich nicht einverstanden bin, muss ich das | |
benennen. | |
Seitdem erzähle ich Leuten, die sagen, dass sie Medien nicht mehr | |
vertrauen, von meinem Beruf, von den Erfahrungen. | |
Mich bewegt das bis heute. Wie meine Lehrerin aus dem Nichts auftauchte, | |
und ich noch einmal etwas Grundsätzliches lernte. | |
10 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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