Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Analyse totalitärer Systeme: Arendts große Liebe
> Heinrich Blücher war Hannah Arendts Ehemann und ihr intellektueller
> Freund. 50 Jahre nach seinem Tod sind Texte von ihm auf Deutsch
> erschienen.
Bild: Heinrich Blücher und Hannah Arendt – die intellektuelle Doppelmonarchi…
Wer sich mit [1][Werk und Leben von Hannah Arendt] beschäftigt wird auf den
Namen Heinrich Blücher gestoßen sein, dem sie ihre große
Totalitarismusstudie gewidmet hat. Mit ihm teilte sie ihre berühmte Wohnung
in der New Yorker Upper Westside, aus der viele von der „Doppelmonarchie“
Arendt-Blücher angetane Besucher berichtet haben.
Mit ihren Veröffentlichungen erreichte Arendt eine internationale
Bekanntheit, von der Heinrich Blücher ausgeschlossen blieb. Ihn gab es als
Gerücht. Er selbst stilisierte sich als Mann der mündlichen Kommunikation,
der dem Ideal eines sokratischen philosopher-citizen entsprechen wollte.
Blücher gab wie viele Emigranten in den 1940er Jahren Kurse an der New
Yorker New School, er lehrte später am provinziellen, aber renommierten
Bard College.
Arendt scheute sich nicht, bisweilen seine Vorlesungen zu besuchen. Es gibt
Tonbandaufzeichungen; aber eigenständige schriftliche Werke waren nicht
bekannt. Der Wallstein Verlag überrascht nun 50 Jahre nach Blüchers Tod mit
zwei Texten unter dem Titel „Versuche über den Nationalsozialismus“, die
der Kulturwissenschaftler Ringo Rösener ausgegraben hat. Der gut
informierte Herausgeber versucht nicht, die Texte als Sensationsfunde zu
stilisieren, aber verspricht immerhin einen Blick in die Gedankenwerkstatt
des Ehepaars Blücher-Arendt.
Die erste, bisher unpublizierte Arbeit „Das Perpetuum mobile“ ist aus dem
Jahre 1941, als Arendt und Blücher gerade in New York auf der Flucht vor
den Nazis angekommen waren. Die ebenfalls von Rösener abgedruckte englische
Version werden sie kaum selbst übersetzt haben; denn sie lernten zu diesem
Zeitpunkt noch eifrigst die Landessprache.
## Autodidakt und Ex-KPD-Mann
Studien zu Deutschland gab es damals in New York en masse. An der New
School fanden hochkarätige Forschungskolloquien statt, die Emigranten des
Frankfurter Instituts für Sozialforschung organisierten Vorlesungen an der
Columbia University. Blücher und Arendt hielten sich von solchen
Aktivitäten fern; für seine Arbeit fand Blücher auch kein Medium. Scheute
er als Autodidakt das akademische Milieu oder wollte er als ehemaliger
KPD-Mann Abstand zu prominenten deutschen Emigranten wahren?
In seinem instruktiven Nachwort informiert Rösener über die auch von
Blücher nicht gern transparent gemachte politische Vergangenheit. Das hatte
auch gute Gründe; denn obwohl nicht in führenden Positionen war Blücher in
Deutschland an den Grenzen der Illegalität aktiv gewesen – vom Hamburger
Aufstand 1923 bis zur KPD-Opposition. Blücher erhielt erst 1951 die
US-Staatsbürgerschaft; in der McCarthy-Ära hätte er sie schnell wieder
verlieren können.
Rösener meint, die Argumentation in „Perpetuum mobile“ sei die eines
Arbeiters, aber es ist eher der enge Horizont eines ehemaligen
KP-Funktionärs. So liegt Blüchers Hauptaugenmerk auf der faschistischen
Technik der Eroberung der Macht, der Kombination von Legalität und
Illegalität, dem Zusammenspiel von Propaganda und Terror. Blüchers Gespür
für die trüben Quellen lässt ihn über die Klassenkampflogik hinaus denken �…
er erkennt die Bedeutung des Antisemitismus für die NS-Propaganda.
Heinrich Blücher möchte sich 1941 mit seinem Text von allen Spezialisten
des „deutschen Problems“ absetzen, die den Nationalsozialismus aus einer
übermächtigen nationalen Tradition verstanden; er sieht im
Nationalsozialismus einen Traditionsbruch. Politisch bewegt Blücher sich
im Rahmen der Anti-Hitler-Koalition. Noch ist der Kommunismus nicht der
Feind, die Sowjetunion Verbündeter.
## Totalitäre Systeme
In seinem 1949 in der Amerikanischen Rundschau veröffentlichten Aufsatz
„Nationalsozialismus und Neonationalismus“ rückt Blücher den Bolschewismus
neben den Nationalsozialismus ins Zentrum politischer Kritik. Arendt wird
bis in die 60er Jahre dieser Terminologie verhaftet bleiben. Warum
Nationalsozialismus und Bolschewismus und nicht Faschismus und Kommunismus?
Blücher-Arendt möchten den totalitären Systemen Namen geben, sie misstrauen
den politischen Begriffen. Selbst dem Ausdruck Totalitarismus als einem
„Funktionsbegriff“ steht Blücher damals noch skeptisch gegenüber. Heute
macht man sich kaum eine Vorstellung, wie unsicher die junge politische
Wissenschaft im Westen auf die fundamentalen gesellschaftlichen
Veränderungen reagierte.
Blücher möchte anstelle der konservativen Kulturkritik eine politische
Kritik setzen, die sich von ephemeren soziologischen und
sozialpsychologischen Erkenntnissen nicht beeindrucken lässt. Das wird eine
Schwäche der [2][Arendt’schen politischen Theorie] bleiben: Der kategoriale
Apparat bleibt der traditionellen Philosophie verhaftet; neben
Allgemeinplätzen über alle -ismen des „Modernismus“ wie Nationalismus,
Imperialismus und Sozialismus stehen aufmerksame Beobachtungen des
geschichtlich Neuen.
Die Reduktion des Nationalsozialismus und des Bolschewismus auf
gleichrangig behandelte „Fetische“ wie Rasse und Klasse simplifiziert
Ideologiekritik. Die Elemente und Ursprünge der [3][Arendt’schen
Totalitarismuskritik] sind in diesen Entwürfen schon erkennbar. Erfahrung
bleibt ein unverzichtbares Element; auch wenn die Empirie in den Skizzen zu
kurz kommt.
20 Dec 2020
## LINKS
[1] /Hannah-Arendt-im-Kino/!5075748
[2] /Hannah-Arendt-Ausstellung-in-Berlin/!5681502
[3] /Neues-Buch-ueber-polnische-Juden-im-NS/!5061120
## AUTOREN
Detlev Claussen
## TAGS
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Exil
Politikwissenschaft
Hannah Arendt
Philosophie
Hannah Arendt
Hannah Arendt
Martin Heidegger
## ARTIKEL ZUM THEMA
Hannah-Arendt-Ausstellung in Berlin: Königin der Chuzpe
Hannah Arendts Denken erlebt eine Renaissance. Das Deutsche Historische
Museum in Berlin widmet ihr nun eine Ausstellung.
Hannah Arendts Band „Wir Juden“: Aktueller denn je
Ein Band versammelt Texte der Philosophin Hannah Arendt. Ihr Plädoyer für
den Kampf gegen Antisemitismus macht sie zu unserer Zeitgenossin.
Nach den „Schwarzen Heften“: Austreibung der Metaphysik
Auch nachdem das Ausmaß von Heideggers Antisemitismus nun bekannt ist,
ziehen Intellektuelle ihn für die Kritik des Zionismus heran.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.