# taz.de -- Senioren in Coronakrise: Besser, wir haben uns | |
> Viele wollen jetzt Gesundheit und maximale Freiheit, angepasst an eigene | |
> Prioritäten. Doch manche wollen einfach die Zeit nutzen, die ihnen | |
> bleibt. | |
Bild: Besuche bei den Eltern finden nur mit Abstand statt | |
Letzte Woche hatte meine Mutter Geburtstag. Vierundachtzig Jahre alt ist | |
sie geworden. Klingt vielleicht nach tüddelig. Ist die Lady aber nicht. Das | |
gibt mir natürlich Hoffnung, als ihre Tochter ein bisschen was von ihrer | |
Kraft und Unverdrossenheit geerbt zu haben. Sie verhält sich seit einem | |
Dreivierteljahr still, geht alleine oder mit meinem 88 Jahre alten Vater | |
spazieren. Sie meiden Kontakte, lesen jeden Tag zwei Zeitungen und | |
diskutieren die politische Lage, als müssten sie gleich morgen ihre | |
Analysen im UN-Sicherheitsrat vortragen. Sie ist schwerkrank und kümmert | |
sich mit bewundernswerter Geduld um Linderung. Von Heilung ist leider nicht | |
die Rede. | |
Es ist ja nicht so, dass aktuell Mittachtziger ganz oben auf der medialen | |
und gesellschaftlichen Prioritätenliste stünden. Denn da stehen – laut und | |
regressiv – schon Boomer wie ich rum. Sie sind gesund und finden, Vatter | |
Staat möge sich doch mal um sie kümmern. Ihre Gesundheit schützen und ihnen | |
maximale persönliche Freiheit garantieren. Ihnen in rasanten Zeiten einen | |
maßgeschneiderten Fünf-Stufen-Corona-Plan aufstellen, an dessen Ende ein | |
Impfslot und eine wieder an Fahrt aufnehmende Wirtschaft stehen. | |
Und ganz wichtig: Weihnachten. Muss. Möglich. Sein. Wenn nötig, wird halt | |
getrickst. Sind wir, aus vier Städten anreisend, nicht dennoch eine | |
Familie? Na ja, nee. Aber sorry, man wird ja von „der Politik“ zur Notlüge | |
gezwungen. Kann schon sein, dass anderer Leute Angehörige auf den | |
Intensivstationen verröcheln – auf den gemeinsamen Verzehr von Wiener und | |
Kartoffelsalat kann beim besten Willen nicht verzichtet werden. We are | |
family. | |
## Heiligabend auf der Terrasse | |
Meine Eltern sehen die Sache anders. Als ich sie anlässlich des | |
mütterlichen Geburtstags besuche, feiern wir bei offenem Fenster eine | |
Stunde Maskenball. Um einen Schluck Filterkaffee nehmen zu können, neigen | |
wir abwechselnd das Gesicht zur Seite: Maske ab, Nippen, Maske auf. Schön | |
ist was anderes. Hinter unseren FFP2 diskutieren wir nun den Heiligabend. | |
Wir beschließen, uns am 24. für eine Stunde auf der elterlichen Terrasse zu | |
versammeln und anschließend auseinanderzustieben. Wir geben uns viel Mühe, | |
das als interessante Erfahrung zu antizipieren. | |
Als meine Mutter ihre Diagnose bekommen hatte, war klar: Wir wollen die | |
Zeit, die bleibt, nutzen. Mit Beisammensein, mit Reden, mit Kinder-, Enkel- | |
und Urenkelbesuchen. Anderthalb kostbare Jahre ist das her, davon neun | |
Monate Corona. Und jetzt: Thermoskannen in der Kälte und das Wissen um die | |
Endlichkeit. | |
Als ich gerade anfangen will, traurig zu werden, lächelt mich meine schlaue | |
Mutter hinter ihrer Maske aufmunternd an und schenkt mir einen ihrer | |
tröstenden Sätze. „Sieh es mal so: Besser, wir haben uns, als wir hätten | |
uns.“ Es ist gelebter Pragmatismus einer Generation, die eine Menge davon | |
versteht, die Arschbacken zusammenzukneifen, wenn es darauf ankommt. Und | |
ja, jetzt kommt es darauf an. | |
8 Dec 2020 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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