# taz.de -- Über Crystal Meth und Konsumkultur: Mittelschichtkids und weiße H… | |
> Kein Wunder, dass Crystal Meth so schnell so beliebt werden konnte: Die | |
> Droge passt zu unserer aggressiven Konsumkultur. | |
Bild: Ein White Rabbit, beinahe jedenfalls | |
Grace Slick von Jefferson Airplane sang 1969 im Song „White Rabbit“: „Eine | |
Pille macht dich größer und eine Pille macht dich klein/ Aber diejenigen, | |
die deine Mutter dir gibt, tun überhaupt nichts.“ | |
Nach dem Baden im Schlachtensee, im Sommer, ging ich rüber zur Krummen | |
Lanke. Auf der Wiese prügelten sich etwa 30 Jungs, ich schaute ihnen zu. | |
Einer erklärte mir: „Die Scheißtürken wollten uns unser Crystal Meth | |
abnehmen.“ Es waren auf beiden Seiten Mittelschichtkids. Tage später | |
prügelten sie sich noch einmal, nach einem Konzert in einem Steglitzer | |
Einkaufscenter, diesmal standen noch Mädchen drum herum und feuerten sie | |
kreischend an, die Polizei schaute kurz zu. | |
Auf dem Schlachtensee-Parkplatz nahm ich einen Jungen mit, der nach | |
Schöneberg musste. Freimütig erzählte er unterwegs, dass er der Lieferant | |
dieser Droge sei. Er stelle sie selber her. Er prahlte. Ich wusste nicht, | |
ob ich ihm glauben sollte. | |
Dann erfuhr ich von Pit, meinem Verleger in der Bayerischen Rhön, dass | |
dort, aber auch in Sachsen, die Jungmänner überall auf Crystal Meth seien, | |
das aus dem nahen Tschechien komme. Es sei fürchterlich, die würden alle | |
verblöden, aber richtig. Nicht zufällig sei Crystal Meth mit dem Aufkommen | |
der Rechten zur Massendroge des ländlichen Prekariats geworden: Es sei ein | |
Methamphetamin, das bereits die [1][Nazis als „das Wundermittel Pervetin“] | |
an alle, die im „Kampf“ durchhalten sollten oder wollten, verteilt hatten. | |
Von einem US-Anthropologen, Jason Pine, lernte ich dann, dass auch die | |
Jungmänner im ländlichen Missouri alle auf Crystal Meth seien. Sie würden | |
das Zeug selber herstellen „aus pseudoephedrinhaltigen | |
Erkältungsmedikamenten und gängigen Supermarkt- und Baumarktprodukten“. | |
Anders als in der Rhön war das in Missouri ein großes Thema bei | |
Journalisten und Polizisten. Zu dieser Droge gehöre „die häusliche Gewalt | |
und die der Droge über ihre Nutzer, die Macht und Ermächtigung des Rauschs, | |
die Sucht, alles, was Leute auf sich nehmen, um an Drogen zu gelangen oder | |
sie herzustellen, die Explosionen und Verletzungen und anderen Spuren | |
dieser Gewalt“. | |
## Die Wertsachen der Mütter | |
Den Nutzern und zugleich Herstellern gehe es dabei um „den Traum von einem | |
besseren Leben“, den die „Konsumkultur“ ihnen verspreche, aber vorenthalt… | |
Mir fielen dazu Mittelschichtsmütter ein, die ich kannte, deren fast | |
erwachsene Söhne aggressive, drogenabhängige Loser waren, allerdings waren | |
sie nicht auf Crystal Meth, sondern nahmen wahllos alles, bis hin zu den | |
Wertsachen ihrer Mütter. Eine taz-Autorin brachte mal ihren Freund, einen | |
Crystal-Meth-Verdämmerten aus einer reichen Familie, mit in die taz. Er | |
stahl sogleich eine Handtasche, wurde allerdings erwischt und flog raus. | |
Diese Meth-Köche sind ein „verkörperter Kapitalismus“, wie Jason Pine das | |
Missouri-Prekariat nennt. Sie gehörten zur amerikanischen Idee vom „better | |
living through chemistry“. Die Jungs sind Bastler, die sich „in rastloser | |
Aktivität“ zu „Consumer-Produzenten im Zustand absoluter Unabhängigkeit“ | |
entwickelten. | |
Was sie anrührten, ist laut Pine „in jeder Hinsicht explosiv, im Körper wie | |
in der Plastikflasche“, deren aufsteigendes Gas sie rechtzeitig entweichen | |
lassen müssen, damit sie ihnen nicht um die Ohren fliegt. Daneben bastelten | |
sie an „Sicherheitsvorkehrungen und schützen ihr Labor mit Fallen vor | |
Eindringlingen.“ Nicht zufällig ist das Slangwort für den | |
Methamphetamin-Rausch „to tweak“, welches das Magazin New Yorker auch für | |
die „rastlose Aktivität“ eines Steve Jobs verwendete, eine Art von | |
„Zukunftserregtheit“. | |
## Keine Befriedigung | |
Die von eigenen Musikgruppen begleitete „Crystal-Meth-Kultur“ in Missouri | |
ist zwar weitaus depravierter als die im Süden Berlins, aber beide sind | |
weit entfernt von einer „Untergrundökonomie“, wie sie zum Beispiel Sudhir | |
Venkatesh in den Chicagoer Ghettos bei den mit der Polizei kooperierenden | |
Heroindealer-Gangs erforschte. | |
„Was Meth oder ähnliche Dopamin-konzentrierte Drogen hervorrufen, hat | |
nichts zu tun mit Befriedigung im engeren Sinne“, sagt Pine. Vielmehr gehe | |
es „um die Antizipation der Belohnung, nicht darum, sie zu erleben“. | |
Deswegen schwärmen alle, denen das Missgeschick passierte, alt geworden zu | |
sein, bevor sie 30 wurden, vom körpereigenen [2][Glückshormon Dopamin], das | |
ausgeschüttet wird, wenn man sich auf irgendeine Art und Weise selbst | |
belohnt, wobei sie stets an etwas hart Erarbeitetes denken. | |
Jason Pine fragt sich, ob die Meth-Köche „eine persönliche Souveränität | |
oder ein Gefühl von Selbstermächtigung und Meisterschaft in ihrer Tätigkeit | |
finden, die ihnen in regulären Jobs nicht zur Verfügung stehen würden“. | |
18 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
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