| # taz.de -- Regimekritikerin über Saudi-Arabien: „Die saudische Gesellschaft… | |
| > Regimekritikerin Madawi al-Rasheed hat die neue Oppositionspartei NAAS | |
| > gegründet. Sie will die absolute Monarchie in Saudi-Arabien abschaffen. | |
| Bild: Seit 2018 dürfen Frauen in Saudi-Arabien endlich Auto fahren | |
| taz: Frau al-Rasheed, Sie haben etwas gegründet, das es gar nicht gibt: | |
| eine saudische politische Partei. An wen wenden Sie sich damit? | |
| Madawi al-Rasheed: Es ist sehr wohl eine Partei. Wir sind eine Gruppe | |
| Akademiker*innen und Aktivist*innen im Exil. Unsere Botschaft geht an die | |
| Menschen in Saudi-Arabien. Wir fordern, Demokratie einzuführen und die | |
| absolute Monarchie zu ersetzen. | |
| Welchen Status hat Ihre „Partei der Nationalversammlung“ (NAAS)? | |
| Eines unserer Ziele ist es, die Partei als Nonprofitorganisation in | |
| Großbritannien zu registrieren, denn zwei von uns leben in London. | |
| [1][In Ihrer Gründungserklärung] fordern Sie ein gewähltes Parlament, eine | |
| unabhängige Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Ist das ein Aufruf zur | |
| Revolution? | |
| Das ist Sache des Volkes, aber ein Aufruf zur Revolution ist es nicht. Wir | |
| haben nicht dazu aufgefordert, auf die Straße zu gehen. Angesichts der | |
| Repression wäre das unethisch. Leute sind verhaftet worden, nur weil sie | |
| kritische Meinungen getwittert haben. | |
| Was genau haben Sie mit NAAS vor? | |
| Wir wollen den Saudis alternative Informationen zur Verfügung stellen. | |
| Unser Ziel ist es, das Bewusstsein zu schärfen, was Demokratie bedeutet. | |
| „Demokratie“ und „politische Partei“ sind Begriffe, die in Saudi-Arabien | |
| tabu sind. Demokratie wird als Blasphemie gesehen, politische Parteien als | |
| Schisma. Die Forderung nach Demokratie ist der einzige Weg, die | |
| Gesellschaft vor einer Zersplitterung und vor Machtkämpfen innerhalb der | |
| Herrscherfamilie zu bewahren. | |
| Saudi-Arabien durchlebt schwierige Zeiten. Der [2][Ölpreis ist auf einem | |
| historischen Tiefstand] und die Wirtschaft nach wie vor abhängig von | |
| Öleinnahmen. Ist das Königreich noch stabil? | |
| Sehr wahrscheinlich wird Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS) nach dem Tod | |
| seines Vaters Salman König werden. Aber MBS wird in Angst leben, denn es | |
| ist ihm nicht gelungen, den Konsens der Königsfamilie zu sichern. Er | |
| regiert mit Gewalt. Immer wieder wurden Prinzen inhaftiert. Auch fehlt ihm | |
| die Unterstützung der saudischen Finanzelite sowie der traditionellen | |
| Elite, die Staat und Regierung immer unterstützt hat. Das könnte ein | |
| Machtvakuum schaffen. | |
| In der Berichterstattung ist seit dem Aufstieg von MBS ein Narrativ zu | |
| beobachten, nach dem ein positiver Wandel stattfindet: Das Land hat sich | |
| für Tourist*innen geöffnet, Konzerte und Kinos wurden erlaubt. Am | |
| prominentesten ist das Thema Frauen am Steuer: Seit 2018 dürfen Frauen | |
| endlich Auto fahren. | |
| Um das zu verstehen, müssen wir bis 2011 zurückgehen, als die arabische | |
| Welt begann, politischen Wandel zu fordern. Seitdem versuchen Salman und | |
| MBS das Bild Saudi-Arabiens umzukehren. Vor allem MBS wurde als Lösung | |
| gesehen. Er ist jung und es sieht aus, als befürworte er Reformen. | |
| Tatsächlich aber führt er eine Gegenrevolution an. Und hier kommen die | |
| Forderungen saudischer Frauen und Männer ins Spiel. MBS musste tun, was dem | |
| Westen gefällt. Er hat also genau das getan, wofür die Saudis gekämpft | |
| haben. Der Widerspruch: Während er Reformen in die Wege leitet, sperrt er | |
| die Aktivisten, die diese Reformen fordern, ein. | |
| Hat MBS saudische Frauen ermächtigt? | |
| Nein, das Regime nutzt Frauen als Symbole von Modernität. MBS hat Frauen in | |
| sichtbare Positionen berufen, um zu zeigen, wie fortschrittlich das Regime | |
| ist. Schauen Sie sich Reema bint Bandar an, die Botschafterin in | |
| Washington. Warum sitzt eine Prinzessin in Washington, während Loujain | |
| al-Hathloul, eine junge Aktivistin, immer noch im Gefängnis sitzt? Berufung | |
| ist kein Empowerment. | |
| Al-Hathloul hat sich für das Recht auf Autofahren eingesetzt und ein Ende | |
| des Systems der männlichen Vormundschaft gefordert. Warum gilt jemand wie | |
| sie als gefährlich? | |
| Die feministische Bewegung hat eine zentrale Kluft in der saudischen | |
| Gesellschaft überwunden. Sie ist weder eine regional oder tribal geprägte | |
| noch eine konfessionelle oder islamistische Opposition. Diese | |
| Aktivist*innen haben nationale Politik gemacht und Menschen aus | |
| unterschiedlichen Milieus mobilisiert, um politische und bürgerliche Rechte | |
| sowie Geschlechtergerechtigkeit einzufordern. | |
| Viele in Saudi-Arabien argumentieren, man müsse langsam vorgehen, in | |
| Übereinstimmung mit der konservativen islamischen und arabischen Tradition | |
| des Landes. Was halten Sie davon? | |
| Im September hat das Regime den 90. Jahrestag der Staatsgründung gefeiert. | |
| Das ist eine lange Zeit und wir haben immer noch keine Institution, die das | |
| Volk vertritt. Wie lange sollen wir warten? Weitere 90 Jahre? Allmählicher | |
| Wandel ist ein Mythos, die saudische Gesellschaft ist bereit! | |
| Im Oktober vor zwei Jahren wurde Jamal Khashoggi in Istanbul von saudischen | |
| Agenten getötet. Welche Folgen hatte der Mord für das Land? | |
| Er hat Saudi-Arabien einen irreparablen Schaden zugefügt. MBS ist die | |
| Propaganda ausgegangen, um das Vertrauen in seine Führung | |
| wiederherzustellen. | |
| Viele beschuldigen MBS, persönlich hinter dem Mord zu stecken, allerdings | |
| gibt es dafür keine Beweise. Was ist Ihre Deutung der Geschehnisse? | |
| [3][Khashoggi] war nicht nur Journalist. Von dieser Konstruktion Khashoggis | |
| durch die Washington Post muss man sich lösen. Khashoggi war ein Mann des | |
| Palastes. Er hat eng mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet und muss genug | |
| Informationen gehabt haben, um Saudi-Arabien in ernsthafte Schwierigkeiten | |
| zu bringen. Sie haben ihn getötet, weil er sich vom Regime losgesagt hatte | |
| und in die USA gegangen war. Er war nicht einfach jemand, der Demokratie | |
| wollte. In Wahrheit forderte Khashoggi gar keine Demokratie in | |
| Saudi-Arabien. Er war nicht der größte Demokrat. | |
| Sie scheinen ihm gegenüber kritisch eingestellt zu sein. | |
| Ich sage nur, wie es war. Khashoggi hat Demokratie in der arabischen Welt | |
| gefordert, aber er schrieb auch: Ich fordere keine Demokratie in | |
| Saudi-Arabien, denn die Herrschaft der Familie Saud ist gut. Das war | |
| absolut verrückt, was den Mord natürlich nicht rechtfertigt. Das war ein | |
| schreckliches Verbrechen, unfassbar. Aber das passiert, wenn man sich von | |
| einem totalitären System lossagt. | |
| Sie sind die wohl bekannteste Saudi-Arabien-Expertin. Gleichzeitig sind Sie | |
| eine lautstarke Kritikerin des Regimes. Hatten Sie Angst nach Khashoggi | |
| Ermordung? | |
| Wir alle hatten Angst. Uns ist bewusst, dass es seine Todesschwadronen | |
| schicken kann. | |
| Ist es das erste Mal, dass Sie sich bedroht fühlen? | |
| Ich wurde schon 1991 bedroht, nachdem ich in Großbritannien promoviert | |
| hatte und mein erstes Buch schrieb. König Salman, damals Gouverneur von | |
| Riad, schickte mir eine Warnung über meinen Vater: Wenn Ihre Tochter das | |
| Buch veröffentlicht, werden wir „disziplinarische Maßnahmen“ ergreifen. So | |
| haben sie es ausgedrückt. Dabei war es nur ein Geschichtsbuch, in dem ich | |
| über das Emirat der Raschiden schrieb. | |
| Die Raschiden waren Ihre Vorfahren. In den 20er Jahren, bevor das saudische | |
| Königreich gegründet wurde, führten sie Krieg gegen die Saudis. Hat Ihr | |
| familiärer Hintergrund Einfluss auf Ihre Arbeit? | |
| Die Saudis werfen mir vor, ich wolle zu den glorreichen Tage meiner Familie | |
| zurückkehren. Aber mir geht es nicht darum, zu einem Emirat oder einer | |
| Dynastie zurückzukehren. Davon hatten wir genug. Die Partei, die wir | |
| gegründet haben, ist eine Initiative, mit der wir hoffen, die tribalen und | |
| konfessionellen Trennlinien zu überwinden, denen die Saudis so lange | |
| ausgesetzt gewesen sind. | |
| 14 Oct 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jannis Hagmann | |
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