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# taz.de -- Klimapolitik im Lokalen: Die Straße als Reallabor
> Wie ein friedliches und klimafreundliches Zusammenleben aussehen kann,
> wird beim „Tag des guten Lebens“ in drei Berliner Kiezen erprobt.
Bild: Das gute Leben... im Kaskelkiez in Lichtenberg
Berlin taz | Ob der Gesellschaft ein radikaler Wandel bevorsteht, diese
Frage stellt sich heute nicht mehr. Es geht nur noch um das Wie: by design
or by disaster. Wenn wir den Wandel selbst gestalten wollen, dann ist der
Weg das eigentliche Ziel. Wie unsere Gesellschaft mit der eigenen
ökologischen und gesellschaftlichen Umwelt umgeht, das hat viel mit den
sozialen und kulturellen Verhältnissen innerhalb der Gesellschaft selbst zu
tun.
Der „Tag des guten Lebens“ ist der Katalysator für eine Transformation, die
eine Umwandlung der sozialen Beziehungen und der Herrschaftsverhältnisse
aus dem Lokalen heraus voraussetzt. Wie würden unsere Kieze aussehen, wenn
sie von den Bewohner*innen als Gemeingut selbstverwaltet und nach
eigenen Entwürfen des guten Lebens umgestaltet werden könnten? Weil wir
diese Möglichkeit nicht das ganze Jahr lang haben, beginnen wir mit einem
Tag, dem „Tag des guten Lebens“.
Vor rund drei Jahren fand sich im Brüsseler Kiez in Wedding eine Gruppe
Menschen zusammen, die diese Idee umsetzen wollten. Zwei weitere Kieze in
Lichtenberg und Neukölln folgten. Hinter dem Prozess hat sich ein Bündnis
von 50 Organisationen mit Akteuren aus Umwelt, Kultur, lokalem Gewerbe und
Sozialem formiert, das vom Verein Berlin 21 formell getragen wird und von
RENN.mitte unterstützt wurde.
Im Dezember 2019 stimmte das Berliner Abgeordnetenhaus einer zweijährigen
Finanzierung des Reallabors zu, die jetzt über die Bezirksämter realisiert
wird. Aufgrund der Coronakrise musste der erste „Tag des guten Lebens“ in
Berlin zwar ausfallen, dennoch geht die Arbeit in den Kiezen weiter. Zum
Beispiel gibt es am 25. September sowie am 2. Oktober zwei „Wohnzimmer der
Nachbarschaft“ auf der dann autofreien Antwerpener Straße im Wedding. In
„Online-Talks“ berichten Praktiker, wie man die Gestaltung des eigenen
Kiezes in die Hand nehmen kann.
## Vorbild Köln: selbstbestimmte Nachbarschaft
Zu oft bleiben die Mobilitäts- und Klimawende, die Förderung einer gelebten
Demokratie, der Toleranz und des Zusammenhalts im Stadium einer verbalen
Debatte hängen. Solche Diskurse werden nebeneinander geführt, oft in einer
Nische oder gar Blase, wobei diese Parzellierung der Transformation keinen
großen Schub liefern kann. Der Transformationsansatz hinter dem „Tag des
guten Lebens“ verbindet viele Diskurse und Ziele, indem sie den Kiez zum
Reallabor macht.
In Köln, wo dieser Tag seit 2013 jährlich in wechselnden Quartieren
stattfindet, betrifft dies jeweils 15.000 bis 35.000 Bewohner*innen, die
dann das eigene „Veedel“ aus einer ganz anderen Perspektive erleben. Sie
machen selbst die Erfahrung, dass große Freiflächen viel sinnvoller und
kreativer genutzt werden können, als nicht genutzte Fahrzeuge darauf zu
parken.
Die Nachbarschaft erlebt diesen enormen Eingriff nicht als Fremdbestimmung,
sondern als einen Beitrag zur Selbstbestimmung, vorausgesetzt, der
partizipative und demokratische Prozess im Kiez beginnt lange im Voraus und
wird sorgfältig gefördert, zum Beispiel durch regelmäßige
Nachbarschaftstreffen, Arbeitsgruppen oder gemeinsame Kunstaktionen.
Idealerweise bestimmt jede Nachbarschaft, was auf der eigenen Straße am
„Tag des guten Lebens“ passiert. Genau dabei macht die Bewohnerschaft die
Erfahrung, dass schon im engen Raum ganz unterschiedliche Vorstellungen vom
guten Leben herrschen: Kinder wollen spielen, die Jugend tanzen und die
Älteren die Ruhe genießen. Manche wollen freie Fahrt für das Rad, andere
lieber gemeinsam essen.
Wie kommt man zu einer gemeinsamen Vorstellung, die die Vielfalt zur
Geltung kommen lässt statt unterdrückt? Wie ist die Nachbarschaft als
weltoffene Wohngemeinschaft möglich? Sicher braucht sie unentgeltliche
Rituale, genau wie in jeder Familie und jedem Freundeskreis. Am „Tag des
guten Lebens“ sind das Verkaufen und Kaufen im öffentlichen Raum untersagt,
nur Teilen und Schenken sind erlaubt.
## Es braucht eine breite Bewegung
Wenn die Krise der Demokratie und die Finanzkrise Ausdruck einer
Vertrauenskrise sind, dann stellt sich die Frage, wo das Vertrauen, das
eine gesunde Demokratie und eine faire Ökonomie benötigen, wieder entstehen
kann. Die Antwort lautet: im Lokalen, dort wo Menschen persönlich
miteinander interagieren und sich mit überschaubaren Räumen als Gemeingut
identifizieren können.
Ohne die Zustimmung der politischen und administrativen Institutionen kann
jedoch kein echter Freiraum für die partizipierte Transformation entstehen.
Dafür ist ein paralleler Prozess notwendig, der zur nötigen public citizen
partnership führt. Es braucht eine breite, bunte Bewegung hinter der
Initiative, die für die nötige Augenhöhe mit der Verwaltung sorgt, damit
das gute Leben und die Transformation in den Städten nach und nach
gemeinsam erreicht werden.
24 Sep 2020
## AUTOREN
Lena Horlemann
Davide Brocchi
## TAGS
Schwerpunkt Klimagerechtigkeit
Berliner Bezirke
Schwerpunkt Klimawandel
Schwerpunkt Klimagerechtigkeit
Schwerpunkt Fridays For Future
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