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# taz.de -- Die Wahrheit: Lob des Dorfgasthofs
> Was es braucht, um mit einer charismatischen Lokalität im
> mittelfränkischen Neuendettelsau mitzuhalten: nicht viel eigentlich.
Bild: Leicht schief, trotzdem schön: der Gasthof Sonne
In diesen glänzenden Zeiten, in denen die Volksbeglücker und Sadomaskisten
regieren, ist der bei Sinnen gebliebene Mensch zwangsläufig Trotzkist und
geht darob „trotz“ (ha!) allem und am besten rund um die Uhr in den
Dorfgasthof.
So ein Dorfgasthof muss natürlich erst einmal vorhanden, also gewissermaßen
vor Ort sein, idealiter fußläufig erreichbar. In dem hier zu beschreibenden
Fall ist das im Sinne der besten aller denkbaren Welten vollumfänglich
gegeben.
Der Weg zum Dorfgasthof führt durch einen, sagen wir, neunhundert
Quadratmeter großen, fröhlich gedeihenden Garten, der von ähnlich
anheimelnden, lediglich leidlich gepflegten Gärten gesäumt wird. In diesem
halb wilden, halb mit herrlichen Blumenrabatten und -spalieren bestückten
Garten (Glockenblume, Fette Henne, Phlox, Federmohn, Husarenknopf, Malve,
Sonnenhut, Wegwarte) halten sich ein uralter Pflaumenbaum und ein ebenso
würdevoller Apfelbaum auf, den die vierzig Frau und Mann starke
Spatzenbande als Spielstätte fürs beseelt sinnlose Herumrandalieren nutzt.
Zudem der Hausrotschwanz muss singen (dito gegeben).
Am Ende des Gartens geht’s durch eine hüfthohe grüne Tür eines Zauns, der
auf einem wunderbar betagten, etwas rissigen Mauerfundament steht, in dem
sich allerlei Insekten zu Hause fühlen. Dann durchs schattig duftende
Schulgässchen und vorne an der Hauptstraße rechts rum. Dergestalt hat der
Gang zum Dorfgasthof einen Taug.
## Gegenüber der Kirche
So ein Dorfgasthof muss gegenüber der Kirche platziert sein, da gibt es
kein Vertun. „Da gehört es hin, da hat es immer hingehört“ (Faltblatt zu
fünfhundert Jahren [1][Gasthof Sonne)], das Dorfwirtshaus, das auf einem
Grund errichtet wurde, auf dem vermutlich bereits 1170 der Urhof Nummer
eins des Gemeindewesens stand.
Schon im 17. Jahrhundert war der Dorfgasthof sowohl Wirtstatt (es werde
bewirtet) als auch Schenkstatt (es fließe Bier). Die Tradition erhielt sich
eisern gegen jeden Schwachsinn, den die Weltgeschichte ausbrütete, im 19.
Jahrhundert bekam der Sauladen den Titel „Wirtschaftsgut mit Brauerei und
Taferngerechtigkeit [Tavernenrecht]“ verliehen, und 1881 übernahm die
Familie Bischoff die sagenhaft schöne olle Bude, deren gnadenlos richtig
gestaltete, sanftgelb-weiße Fassade mit den Geranien vor den
Sprossenfenstern den Verweil- und Ansprachebedürftigen Tag um Tag aufs
Freundlichste grüßt. Mit begründetem, obgleich zurückhaltendem Stolz zeigt
das Originalwirtshausschild an: Gasthaus zur Sonne von Johann Bischoff.
So ein Dorfgasthof braucht selbstverständlich eine schöne Wirtstochter. Die
nämliche Anforderung ist im in Rede stehenden Fall geradezu spektakulär und
auf schier unglaubwürdige Weise übererfüllt. Das geheimnisvoll schwarze
Haar, die Beine, vor denen jede Serengetigazelle aber sehr alt aussieht –
say no more, say no more. Am Tag des von Markus Thomas Theodor Söder in
seiner unermesslichen Güte gewährten Lock-ups waren wir die Ersten, die
sich um Punkt 17 Uhr ein Freiluftbier unter der achttausend Jahre auf dem
Buckel habenden Kastanie vor dem Haus servieren lassen durften, von der, so
muss es sein, schönen Wirtstochter in graubraunmelierten Jeans.
## Grund- und Hochsympathen
So ein Dorfgasthof braucht obendrein eine nicht minder augenweidliche
Chefin und einen allzeit zuvorkommenden und plauderwilligen Allroundboss.
Dann braucht es ungeheuer flinke und warmherzige portugiesische und
pakistanische und germanische und ägyptische Kellner und, ja, bitte sehr:
-kellnerinnen, und es braucht zirka drei Stammtische, an denen sich ein
geübter Schweiger, mehrere Grund- und Hochsympathen, eine rhetorische
Dampfmaschine, Metzger Adam, eine verkörperte Ortstageszeitung, zwei bis
sechs Grantler, ein lachender Chronist, mindestens vier Handwerker und
anderweitige Spezialcharaktere zwecks Formierung eigenwilliger
Sozialkonstellationen regelmäßig einfinden.
Will man bisweilen mal für sich sein, hockt man in der von Rustikalität und
Geschmack, Erdverbundenheit und Stil zeugenden Stube an einem abgesonderten
Holztisch, lugt in die Leere, lugt und lugt noch ein wenig und hört
plötzlich in der Wärme der Räumlichkeit einen Satz herüberwehen: „Ich
trinke nicht mit dem Kopf, sondern mit der Seele.“
Der sodann erreichte Zustand lässt sich notdürftig als „inwendige
Tranquilität“ (Gerhard Polt) plus Weltaufmerksamkeitsschärfung umschreiben,
und zu verdanken ist dieses unvergleichliche Wohlgefühl dem Dorfgasthof
Sonne in Neuendettelsau im gut und gerne einigermaßen akzeptablen
Mittelfranken – sowie Martina, Christina und Willi Bischoff, deren Tun zu
preisen uns kein Wort zu viel erscheint.
Man widerspreche nicht.
22 Sep 2020
## LINKS
[1] https://www.landhotel-sonne.com/Home.html
## AUTOREN
Jürgen Roth
## TAGS
Gastronomie
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
Kolumne Die Wahrheit
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Katharina Thalbach
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