# taz.de -- Tag des offenen Denkmals: Ein Riss, noch nicht verheilt | |
> In Charlottenburg gibt es einen einzigartigen Gedenkort für die Opfer des | |
> Genozids in der Türkei. | |
Bild: Die Gedenksteine tragen die Namen von Herkunftsorten der Opfer | |
Drei Begräbnisstätten – für drei Millionen Tote. Auf dem Evangelischen | |
Luisenkirchhof III in Charlottenburg, in der Mitte der Erbbegräbniswand | |
neben prunkvollen Familiengräbern aus Marmor, befindet sich die ökumenische | |
Gedenkstätte für Genozidopfer im Osmanischen Reich. Drei aufgelassene | |
Erbbegräbnisstätten wurden zu „Altären der Erinnerung“ umgewidmet – im | |
Gedenken an ermordete Armenier*innen, Griech*innen und Aramäer*innen. Die | |
mehrsprachigen Kalksteinplatten tragen die Namen der wichtigsten | |
Herkunftsorte der Opfer. | |
Das ist der einzige Ort weltweit, an dem gemeinsam der Christen gedacht | |
wird, die von 1912 bis 1922 unter den nationalistischen Regimen der | |
Jungtürken und Kemalisten bei Massakern, Todesmärschen oder Zwangsarbeit | |
ums Leben kamen. Mindestens drei Mal im Jahr kommen Vertreter*innen der | |
drei Gemeinschaften hier zusammen – zu den Gedenktagen des Völkermord an | |
den Armenier*innen (24. April), Aramäer*innen (15. Juni) und Griech*innen | |
(14. September). Sie legen Blumen nieder und erinnern sich kollektiv und | |
einzeln ihrer Vorfahren. | |
Tessa Hofmann ist häufiger hier. Sie ist Mitinitiatorin und | |
Vorstandssprecherin der Fördergemeinschaft für die Gedenkstätte. Die | |
70-jährige Genozidforscherin hat lange dafür gekämpft, dass ein solcher Ort | |
in Berlin entsteht. | |
Nach einer internationalen Konferenz zum osmanischen Genozid an | |
armenischen, griechischen und aramäischen Christ*innen an der Technischen | |
Universität Berlin im Jahr 2002 hatte sich in Berlin ein | |
Organisationskomitee aus den betroffenen Gruppen gegründet. Dieses nahm | |
2008 Kontakt zum Bezirksamt Charlottenburg auf, um im öffentlichen Raum | |
einen Gedenkstein für die Völkermordopfer zu errichten. Es schlug die | |
Gedächtniskirche, den Haupteingang zum Lietzenseepark, einen Standort | |
gegenüber dem Schloss Charlottenburg oder den Mierendorffplatz vor, wo die | |
syrisch-orthodoxe Mor-Afrem-Kirche steht – alles viel besuchte Plätze im | |
öffentlichen Raum. Doch die Bedenken waren zu groß. „Wie wollen Sie die | |
Gedenkstätte vor Schändungen schützen? So lautete eine Frage an uns“, | |
erzählt Hofmann. „Darauf hatten wir selber keine Antwort. Und wir wollten | |
auf jeden Fall eine Konfrontation und wiederholten Schmerz vermeiden.“ | |
[1][2012 entstand dann die Ökumenische Gedenkstätte] auf dem Friedhof, gut | |
geschützt und immerhin in Charlottenburg. Der Bezirk weist zahlreiche | |
Schnittstellen zur osmanischen Geschichte und dem Völkermord der Jungtürken | |
auf. Cemal Azmi war Gouverneur der Provinz Trabzon am Schwarzen Meer. Auf | |
seinen Befehl hin wurden armenische Kinder und Frauen, oft nach | |
Misshandlungen und sexueller Gewalt, ins Meer gestoßen. Azmi war auch für | |
Angriffe auf griechische Dörfer und Deportationen von Griech*innen | |
verantwortlich. Im Oktober 1918 flüchtete er nach Deutschland. Dort wurde | |
er mit Bahaddin Şakir von armenischen Tätern am 17. April 1922 in der | |
Charlottenburger Uhlandstraße erschossen. | |
Şakir gehörte zu einer Sonderorganisation der Jungtürken. Er war für die | |
Planung und Durchführung des Völkermords an der armenischen Bevölkerung | |
zuständig. Auch der damalige Innenminister Mehmed Talat wurde als | |
Hauptorganisator des Genozids in Berlin erschossen – im März 1921 auf der | |
Hardenbergstraße nahe dem Bahnhof Zoo. | |
Alle drei wurden auf dem Hof der Şehitlik-Moschee in Neukölln begraben, | |
Talats Leichnam wurde jedoch im Zweiten Weltkrieg nach Istanbul überführt. | |
Die Gräber der beiden anderen Genozidtäter blieben in Berlin. Sie wurden | |
2011 erneuert. „Märtyrerfriedhof“, so nennt sich die Şehitlik-Moschee, die | |
zur staatlichen türkisch-islamischen Organisation Ditib und deren Gelände | |
dem türkischen Staat gehört. Hier wird an Bahaddin Şakir und Cemal Azmi | |
noch als Märtyrer erinnert. | |
„Berliner Ambivalenz“, nennt Hofmann das. „Einerseits haben wir hier eine | |
Verehrung der Täter auf exterritorialem Gelände, auf das der Berliner Senat | |
keinen Zugriff hat. Andererseits haben wir im halböffentlichen Raum in | |
Charlottenburg das Andenken an drei Millionen Opfer.“ Für Hofmann ist der | |
Luisenkirchhof auch ein Lernort. [2][Mehr politische Bildung über den | |
Völkermord] wünscht sie sich. Sie ist überzeugt, dass nicht der Islam, | |
sondern der Nationalismus türkeistämmige Menschen daran hindert, sich mit | |
diesem Thema auseinanderzusetzen. | |
Hofmann weist auf den Riss in der Tafel vor der Gedenkstätte hin. Er | |
symbolisiere die offene Wunde, die sich erst schließen könne, wenn die | |
Türkei den Völkermord offiziell anerkennt. Vielleicht wird er für immer | |
bleiben. | |
11 Sep 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.virtual-genocide-memorial.de/ | |
[2] /Jahrestag-des-Genozids-an-den-Armeniern/!5586437/ | |
## AUTOREN | |
Tigran Petrosyan | |
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