# taz.de -- Winfried Kretschmann ärgert die Grünen: Führungsanspruch Adé? | |
> Mit Werbung für Schwarz-Grün düpiert Winfried Kretschmann die | |
> Parteispitze. Vor allem aber offenbart er eine Schwachstelle der grünen | |
> Strategie. | |
Bild: Kretschmann hofft auf eine Juniorpartnerschaft der Grünen an der Seite d… | |
Die Grünen-Spitze hat es derzeit wirklich nicht leicht. Da geben sich | |
Annalena Baerbock und Robert Habeck im Vorwahlkampf solche Mühe, [1][bloß | |
in keine Falle zu tappen] – und dann grätscht ihnen Winfried Kretschmann | |
brutal dazwischen. Seine Äußerungen in einem [2][Gespräch mit der Zeit] | |
lesen sich so, als glaube der erste und immer noch einzige grüne | |
Ministerpräsident nicht an einen Sieg seiner Partei bei der Bundestagswahl | |
im kommenden Jahr. Das ist höchst ärgerlich für das Führungspersonal der | |
Grünen, das doch unablässig davon spricht, die Union herausfordern zu | |
wollen. Noch bevor der Wahlkampf begonnen hat, sagt Kretschmann ihn bereits | |
ab? | |
Nicht ganz. Denn gefragt wurde Kretschmann nach einer grün-schwarzen | |
Bundesregierung nach dem Vorbild Baden-Württembergs. „Das sehe ich derzeit | |
nicht“, hat er darauf geantwortet. Die Zahlen gäben das nicht her. Nun ja, | |
seriöserweise hätte er gar nicht anders antworten können. Problematischer | |
ist da schon sein Nachsatz, er fände, „wir sollten auch aufhören, davon zu | |
träumen“. Gibt es ernsthaft Grüne, die daran glauben, bei der nächsten | |
Bundestagswahl die Union zu überflügeln? Dann bestünde ernsthafter Grund | |
zur Sorge. | |
Nichts spricht dafür, dass Baerbock und Habeck zu derartigen Illusionen | |
neigen. Sie dürften sich vielmehr sehr bewusst sein, dass der große | |
Vorsprung der Union in den aktuellen Umfragen unter einigermaßen normalen | |
Umständen vielleicht zu verringern, aber nicht aufzuholen ist. Sie sind | |
auch keine Politdesperados, die ihre Wahlkampfstrategie auf Hoffnungen und | |
unvorhersehbare Ereignisse aufbauen. | |
Aber dem postulierten Anspruch der Grünen widerspricht das trotzdem nicht: | |
Es gehe darum, um die Führung in diesem Land zu kämpfen, [3][lautet das | |
Credo von Habeck, Baerbock und Bundesgeschäftsführer Michael Kellner], dem | |
Wahlkampforganisator. Das klingt vollmundig, sollte aber auch nicht falsch | |
verstanden werden. | |
## Führungsanspruch heißt auch Führen-Wollen | |
Einen Führungsanspruch kann eine Partei auch dann haben, wenn sie bei einer | |
Wahl auf Platz zwei landet. Die SPD hat dies zu Zeiten von Willy Brandt | |
1969 und Helmut Schmidt 1976 und 1980 eindrucksvoll bewiesen. Auch Winfried | |
Kretschmann weiß bestens, wie es geht: Als er 2011 Ministerpräsident wurde, | |
lagen die Grünen in Baden-Württemberg fast 15 Prozentpunkte hinter der CDU. | |
Nur: [4][In einer Koalition mit der CDU wäre er das seinerzeit nicht | |
geworden]. | |
Genau das ist der entscheidende Haken: Wer einen Führungsanspruch | |
reklamiert, muss auch bereit sein zu führen. Hier hat Kretschmann – ob | |
beabsichtigt oder nicht – die große Schwachstelle der | |
taktisch-strategischen Winkelzüge der Grünen-Spitze offenbart. Denn er | |
plädiert offen für genau jene Koalition, die führende Grüne ansonsten nur | |
hinter vorgehaltener Hand präferieren: die mit der Union. Und zwar als | |
Juniorpartnerin. Wie so etwas praktisch aussehen könnte, lässt sich | |
übrigens derzeit im Nachbarland Österreich so anschaulich wie abstoßend | |
beobachten. | |
Wenn die Grünen aber wie geplant im kommenden Jahr einen Kanzlerkandidaten | |
oder eine Kanzlerinnenkandidatin aufstellen, muss klar sein, dass sie auch | |
den nächsten Kanzler oder die Kanzlerin stellen wollen. Das wird für ihren | |
Wahlkampf weitaus entscheidender sein als die Frage, [5][ob sie nun Habeck | |
oder Baerbock nominieren]. Denn Mobilisierungskraft kann das demonstrativ | |
große grüne Selbstbewusstsein nur dann entfalten, wenn es glaubwürdig | |
erscheint. Das ist es jedoch nur mit einer Machtoption jenseits der Union. | |
Nur dann besteht die Chance auf jene Aufbruchstimmung, die die Grünen für | |
ein Wahlergebnis brauchen, das ihren hohen Erwartungen entspricht. | |
Noch müssen die Grünen nicht Farbe bekennen. Bis zur Bundestagswahl kann | |
noch viel passieren. Die Relevanz der derzeitigen rhetorischen Scharmützel | |
ist daher begrenzt. Das gilt auch für die Kretschmanns Einlassungen. | |
Wesentlich wichtiger ist, ob es ihm gelingt, die baden-württembergische | |
Landtagswahl im März zu gewinnen. Sonst sieht es für die grünen Aussichten | |
auf Bundesebene ohnehin nicht gut aus. | |
Die Grünen sollten dennoch nicht dem Glauben anhängen, bis zum Wahlabend | |
offen lassen zu können, ob sie eine Koalition mit SPD und Linkspartei | |
anführen oder lieber Steigbügelhalterin für einen Kanzler der Union sein | |
wollen. Ihre Enttäuschung darüber, wie die Wählerinnen und Wähler auf eine | |
solche Unentschlossenheit reagieren, dürfte sonst groß sein. | |
27 Aug 2020 | |
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[1] /Gruenen-Konflikt-ueber-Homoeopathie/!5702645 | |
[2] https://www.zeit.de/2020/36/michael-kretschmer-winfried-kretschmann-sachsen… | |
[3] /Gruene-und-ihr-Grundsatzprogramm/!5692766 | |
[4] /Landtagswahl-in-Baden-Wuerttemberg/!5123951 | |
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## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
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